Düsseldorf Der letzte Bordüren-Weber im Rheinland

Düsseldorf · Franz Schubert stellt in Oberbilk Schmucktextilien her, macht die puscheligen Ränder der Sofakissen. Solange sie noch jemand will.

 Das Muster von bunten Borten zeichnet er vorher auf.

Das Muster von bunten Borten zeichnet er vorher auf.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Das weiße Metalltor an der Mindener Straße 29 ist mit Graffiti übersät, an der Fassade weist ein schlichtes Schild auf einen Betrieb hin: "Bruno Borrmann Posamenten". Posamenten, das Wort klingt fremd und auch ein bisschen feierlich. Im Hinterhof steht die grüne Tür offen, über eine enge Treppe geht es in das obere Geschoss. Wer in den langgestreckten Raum kommt, wähnt sich in einer anderen Zeit oder in einer Art Museum.

 Die Hersteller der alten Webstühle haben längst ihren Betrieb eingestellt. Ersatzteile muss Schubert anfertigen lassen und selbst einbauen.

Die Hersteller der alten Webstühle haben längst ihren Betrieb eingestellt. Ersatzteile muss Schubert anfertigen lassen und selbst einbauen.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Eine Längsseite des Raumes ist mit Regalen zugebaut, in denen Hunderte und Aberhunderte von Garnspulen in gefühlt allen Farbschattierungen der Erde aufgestellt sind. Allein die Abstufungen von Dunkelrot füllen ein ganzes Regalfach. Vom Ende des Raumes, der rechts in einen weiteren führt, dringt lautes regelmäßiges Klacken herüber. In einem weiteren Raum um die Ecke steht Franz Schubert zwischen seinen Webstühlen. Mit weißem Haar und Bart und erstaunlich jungem Gesicht blickt er von seiner Arbeit auf und schaltet die Maschinen aus, um den Besuch zu begrüßen.

 Für die Herstellung von Kordeln und Quasten setzt Franz Schubert ein Drehrad ein.

Für die Herstellung von Kordeln und Quasten setzt Franz Schubert ein Drehrad ein.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Schubert, Jahrgang 1936, in einem Alter, in dem andere längst in Rente sind, ist einer der letzten Überlebenden eines aussterbenden Gewerbes. Außer seinem Düsseldorfer Betrieb, den er 1988 von der Tochter des Gründers Bruno Borrmann übernommen hatte, gibt es in Deutschland noch zwei weitere in Frankfurt und in München, die den Fachhandel beliefern. "Unendlich viele Betriebe sind kaputt gegangen. In meiner Jugend gab es in jeder Stadt einen", sagt Schubert. "Heute weiß doch kein Mensch mehr, was Posamenten sind."

Mit dem französischen Begriff werden Bordüren, Borten, Kordeln und Quasten bezeichnet, die zum Schmuck von anderen Textilien eingesetzt werden. Schuberts Kunden sind Raumausstatter, Polstermöbelhersteller und Objekteinrichter. "Das sind gewachsene Kontakte", sagt Schubert. Sein Großvater väterlicherseits kam aus Annaberg in Sachsen, wo lange das Zentrum der deutschen Posamentenherstellung war, nach Köln und machte sich dort mit einem Betrieb selbstständig. Der Sohn übernahm ihn und als Kind ging Schubert nach der Schule in den Betrieb und half mit. "Da wurde man nicht gefragt, das war selbstverständlich." Später lernte er einen kaufmännischen Beruf. Eine Lehre zum Posamentierer hat er nie gemacht. "Das konnte man nur bei einem Meister. Und die waren alle in der DDR. Als die Mauer fiel, waren sie bereits alle tot", erzählt Schubert. So eignete er sich das nötige Wissen selbst an. "Das war nicht ganz einfach. Aber es gibt nicht viel, was nicht geht", sagt der 77-Jährige und schaut einen dabei mit festem Blick an, so als solle man sich diesen Satz auch gut einprägen. Es gibt nicht viel, das nicht geht - das ist wohl so etwas wie Schuberts Lebensmotto. Es hat ihm geholfen durchzuhalten und weiterzumachen, während andere längst aufgegeben haben.

Das gilt nicht nur für die Kollegen. Auch die Hersteller seiner Webstühle, von denen vier noch aus den 50er/60er Jahren stammen, einen neueren hatte er vor 14 Jahren gekauft, sind schon lange vom Markt verschwunden. Wenn er ein Ersatzteil braucht, muss Schubert sich etwas einfallen lassen. Braucht er ein neues Zahnrad, gibt er bei einem Wuppertaler Schlosser eins in Auftrag. Dann nimmt er selbst die Maschine auseinander, um es einzubauen. Was soll er auch sonst machen? Schließlich kennt er die Geräte selbst am besten.

Die mechanischen Webstühle werden übrigens noch über Lochkarten gesteuert. Beim Durchschuss werden einzelne Kettfäden hochgezogen, so entsteht auf den Borten das Muster. Um die Lochkarte für ein bestimmtes Muster anzufertigen, benötigt man eine Zeichnung der so genannten Patrone. Damit man eine Vorstellung davon bekommt, holt Schubert gleich eine. Auf Millimeterpapier hat er das Muster für die Borte vorgezeichnet. Früher machten das Spezialisten, die es natürlich auch nicht mehr gibt. Sein Betrieb scheint eine große Do-it-yourself-Veranstaltung zu sein. "Ich habe einige Aushilfskräfte, ganz allein kann man das nicht machen", sagt Schubert.

Dann geht er in den Nebenraum, um zu zeigen, wozu er die altertümlich anmutenden Drehräder hat. An zwei Haken befestigt er Fäden, dreht mal in diese Richtung, nimmt die Fäden doppelt, dreht in die andere Richtung. Und dabei entsteht eine Kordel. Ein Vorgang, den man so lange weitertreiben kann, bis man ein dickes Tau in den Händen hält. Der Raum hat neben den alten Geräten noch so einiges andere optisch Ungewöhnliche zu bieten. Im oberen Bereich der einen langen weißen Wand stehen große schwarze Zahlen von 1 bis zwanzig. Wozu? "Das ist ein Metermaß. Wenn jemand 20 Meter Kordel braucht, messe ich sie so ab", erklärt Schubert.

Mittlerweile sieht man in Wohnzeitschriften Wände von Designerlofts, die so aussehen wie in Franz Schuberts Werkstatt. Allerdings hat hier alles noch eine Funktion, jenseits des ästhetischen Empfindens. Das unterliegt der Mode. Doch auch heute mögen manche es noch verspielt und gemütlich und lieben Sofakissen mit puscheligen Rändern. Effilé oder Kissenschnitt heißt das in der Fachsprache. Diesen Schmuck stellt Schubert an der Nähmaschine mit doppelter Nadel her, dann schneidet er die zusammengenähten Wollfäden in der Mitte auf und streicht mit der Hand über die braune dichte flauschige Fläche.

Franz Schubert wendet sich noch einmal der Wand mit den farbigen Garnen zu. Jeder Besucher ist davon fasziniert. "Das ist jedes Mal das Gleiche, wenn Leute hierherkommen." Eigentlich sind sie weiß und kommen aus China. Für jeden Auftrag bestellt er die richtigen Töne in einer Wuppertaler Färberei. Wie viele Farben Schubert vorrätig hat, weiß er nicht. "Wirklich nicht", sagt er und schüttelt den Kopf.

Als der Fotograf ihn bittet, vor einem Ständer mit roten Garnspulen Platz zu nehmen, zögert er: "Ich sitze selten." Die Arbeit wird schließlich vor allem im Stehen erledigt. Ob er sich wünscht, dass eines Tages der Betrieb von jemand übernommen wird? Schubert wird ernst und nickt. "Ja." Vor einiger Zeit hatte eine junge Frau Interesse an dem Betrieb angemeldet und sich damit vertraut gemacht. Nach einiger Zeit hat sie das Handtuch geworfen. Tja, nichts zu machen. Und Schuberts Sohn hat sich für die Computerbranche entschieden. Er hätte auch gar nicht die nötige Geduld. Von der braucht man an so einem Webstuhl eine ganze Menge. Zum Beispiel beim Wechseln des Garns. "Wenn Sie schnell sind und Übung haben, schaffen Sie das in einer halben, dreiviertel Stunde", sagt Schubert. "Aber wenn man mit Hektik daran geht, kann man gleich alles wegschmeißen. Da geht man lieber erst mal eine Stunde schlafen und macht das dann in Ruhe."

Schubert stellt die Webstühle wieder an und setzt die Arbeit fort. Das Klackern der Maschinen begleitet den Weg nach unten, vorbei an den Tapetenresten mit gelb-grünem Muster aus den 70er Jahren. Auf der Straße tönt der Verkehrslärm vom Oberbilker Markt herüber, vor dem Gerichtsgebäude ziehen Anwälte noch einmal an der Zigarette.

"Posamenten wird es immer geben", hat Franz Schubert gesagt.

(RP)
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