Deutscher Underground der 80er Vollkontakt mit der Unmittelbarkeit im Ratinger Hof

Der Bildband „Geschichte wird gemacht“ versammelt Fotos von Richard Gleim aus der musikalischen Gegenwart der 1980er Jahre.

 Die Band Die Krupps mit ihrem Lieblingsmaterial: Stahl.

Die Band Die Krupps mit ihrem Lieblingsmaterial: Stahl.

Foto: Richard Gleim

Und dann schlägt man das Buch auf und schaut in diese Gesichter, und man ist gleich hin und weg, denn in diesen Gesichtern sieht man einen höheren Auftrag, man sieht Selbstgewissheit und Unverbrüchlichkeit, ja: Den unerschütterlichen Glauben daran, dass jetzt eigentlich nichts anderes mehr kommen kann als die Weltherrschaft von Stil und Sound. Und dazu fallen einem die Zeilen der Fehlfarben ein, die damals dieses sangen: „Wir tanzten bis zum Ende / zum Herzschlag der besten Musik / jeden Abend, jeden Tag / Wir dachten schon, das ist der Sieg.“

Nach einem Vers dieser Band ist das Buch denn auch benannt, „Geschichte wird gemacht“ heißt es und im Untertitel: „Deutscher Underground in den Achtzigern“. Es versammelt Schwarz-Weiß-Fotografien von Richard Gleim, den alle bloß „ar/gee“ nannten und der immer dabei war, mit Bart und Matte, die Kamera vor dem Auge. Das Hauptquartier dieser Zeit, in der das Neue in die Welt kam, war Düsseldorf, der Ratinger Hof mit seinem „Ambiente eines Operationssaals für betrunkene Amateurchirurgen“, wie es im Buch heißt. Auf den Fotos sehen alle so verflixt gut aus, das Publikum und die Musiker, Ralf Dörper, Eva-Maria Gößling, Gabi Delgado. Wie man halt aussieht, wenn man eine Mission hat und nachts einfach im Din-A-Null weiterfeiert, weil der Ratinger Hof um eins zumacht.

 DAF am Düsseldorfer Flughafen.

DAF am Düsseldorfer Flughafen.

Foto: Richard Gleim

Nun kann man natürlich mit Recht fragen, ob man das echt noch braucht, ein weiteres Buch über diese Zeit, diesen Ort und diese Musik, aber man braucht es, der Fotos wegen und wegen des begleitenden Essays von Peter Glaser. Etwas Ungebändigtes habe man damals gespürt, erinnert er sich, die „fast vollständige Abwesenheit von Langeweile“: Punk sei Musik im Übergang gewesen. „Glühende Gegenwart, keine Zukunftsmusik. No Future.“ Richard Gleim, schreibt Glaser, habe Musik fotografiert, und seine Bilder hörten sich gut an: Sie sind „Augenblicksschnaps, hochprozentige Präsenz“. Glasers Text in Verbindung mit den Bildern: Ehrlich, da muss man gar nicht dabei gewesen sein, das reicht schon so für eine Gänsehaut.

Herausgegeben haben den Band Xaõ Seffcheque, den man unter anderem als Musiker der Gruppe Familiy 5 kennt, und Edmund Labonté, Geschäftsführer der Lit.Cologne. Sie sitzen jetzt im Ohme Jupp in der Altstadt, gegenüber dem Ratinger Hof also, und sie strahlen diese Euphorie aus, die nur Heimkehrer spüren. „Wir sind ja praktisch hier aufgewachsen“, sagen sie und meinen nicht Düsseldorf, sondern die Ratinger Straße. Ihr Buch setzt die 80er Jahre ins Bild, und diese Zeit, finden sie, sei die letzte analoge Bastion gewesen. „Endlich eine eigene Identität, eine eigene Weltsicht, ein eigenes Lebensgefühl, ein individueller Anarchismus“, schreibt Seffcheque.

 Geschichte wird gemacht

Geschichte wird gemacht

Foto: Richard Gleim

Der Band bleibt nicht auf Düsseldorf beschränkt, er nimmt ganz Deutschland in den Blick. „Kraftwerk, DAF, Fehlfarben und die Einstürzenden Neubauten seien die einflussreichsten Bands jener Jahre gewesen, sagt Seffcheque; deren Erfindergeist verdanke die Gegenwart enorm viel. Punk sei die wichtigste Kulturrevolution seit Dada gewesen.

„Ich beneide euch um diese Zeit“, hat Labontés Sohn neulich gesagt. Was den Vater einerseits stolz macht, anderseits nachdenklich. „Wir wollten uns noch von den Eltern abgrenzen“, sagt er. „Einmal hörte ich „She’s A Rainbow“ von den Stones. Als meine Mutter sagte, dass das ja ein schönes Lied sei, habe ich die Platte sofort zerbrochen.“

Richard Gleim ist bei dem Treffen nicht dabei, der 78-Jährige ist gerade nicht so gut zu Fuß, beantwortet Fragen aber am Telefon. Er erzählt, dass er Kaufmann gelernt habe. Aber er wollte „an die Basics“, wie er sagt: Wissen, was das Leben ist. Und dann arbeitete er als Gärtner. Aber irgendwann kündigte er und fotografierte im Ratinger Hof und überall, wo etwas passierte – im Okie Dokie in Neuss, im Exxzess in Berlin oder in der Kulturfabrik Krefeld. Ein Autodidakt im Vollkontakt mit der Unmittelbarkeit. Ohne Kalkül, einfach so: „Ich dachte, was machen denn die jungen Leute da? Da gehste mal gucken.“

 Die Gruppe Östro 430.

Die Gruppe Östro 430.

Foto: Richard Gleim

Konnte er davon leben? Das Kopfschütteln hört man durchs Handy. Gleim erzählt, wie er sich ohne einen Pfennig in der Tasche, aber mit einem Karton voller Bilder an die Theke des Ratinger Hofs setzte und ein Bier bestellte, das er eigentlich nicht bezahlen konnte. Gäste sahen die Fotos, fragten, ob die vielleicht zu verkaufen seien. Zwischen zwei und fünf Mark nahm Gleim, der Karton war bald leer, und Gleim hatte 100 Mark in der Tasche.

„Ich bin so ein ganz Stiller“, sagt Gleim über sich selbst, und genau das machte den Unterschied: Niemand achtete auf ihn. Deswegen gelangen ihm direktere Bilder. Szene-Ethnologie, kondensiertes Jetzt. „Richard Gleim rettete die Zeit“, schreibt Peter Glaser.

„Geschichte wird gemacht“ ist ein Buch über den Aufbruch, dessen Geist noch nicht verweht ist. Wie lebendig ist jene Ära noch? Xaõ Seffcheque drückt es so aus: „Punk ist nicht tot. Er muss nur zwei Mal pro Nacht auf die Toilette.“

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