Menschen aus Düsseldorf Den ruppigen Ton muss sich jeder verdienen

Düsseldorf · Yeter und Hüseyin Sengül betreiben seit fast 20 Jahren ein Büdchen an der Bilker Allee. Ein Besuch bei dem Nachbarschaftstreff in Friedrichstadt.

Yeter Sengül in ihrem Büdchen an der Bilker Allee. Hier verbringt sie viele Stunden am Tag, bis ihr Mann sie am Nachmittag ablöst. 

Yeter Sengül in ihrem Büdchen an der Bilker Allee. Hier verbringt sie viele Stunden am Tag, bis ihr Mann sie am Nachmittag ablöst. 

Foto: Philip Zeitner

Welches Wort passt nicht in diese Reihe: Zigaretten, Psychotherapie, Süßigkeitentüte? Man könnte argumentieren, dass das alles hervorragend zusammenpasst. So sieht es Yeter Sengül, die seit fast 20 Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Hüseyin ein Büdchen an der Bilker Allee betreibt.

Sengül ist eine energische, eine praktische und direkte Frau. Sie läuft mit schnellen und klaren Schritten durch ihr Büdchen, verschwindet hinter der Verkaufstheke und kramt. Wer reinkommt, sieht zunächst niemanden und dann einen Kopf hinter Feuerzeugen, Zigarettenblättchen und Süßigkeiten auftauchen. Ein lang gezogenes „Hi“ oder „Guten Morgen“ oder „Hallo“, das freundlich klingt, weniger energisch, praktisch und direkt.

 „Ich habe gedacht, ich mache das fünf, sechs Jahre, bin dann Millionärin und gehe“, sagt Sengül und lacht bei dem Gedanken. Sie sitzt teetrinkend an einem kleinen Stehtisch mit zwei Hockern und erinnert sich. Daran, wie ihr Mann seine Arbeit verlor, sie als Pflegerin in einem Altenheim arbeitete, und eine Cousine ihr sagte, an der Bilker Allee gebe es ein Büdchen, das frei wird. Sie probierten es und sind nicht gegangen. Nicht nach fünf, sechs Jahren, auch nicht nach 15.

Sengül spricht offen über die Schwierigkeiten mit einem Büdchen. Die langen Arbeitszeiten, kaum Freizeit. Von 7 Uhr bis 24 Uhr ist das Büdchen geöffnet. Yeter schließt am Morgen auf, Hüseyin übernimmt am Nachmittag. „Das ist wie in einem offenen Knast“, sagt die 53-Jährige. „Du kannst nichts machen.“ Auch wenn es drastisch klingt, sie beschwert sich nicht. Gegenüber Stammkunden und auch gegenüber der Familie wechselt der Ton vom freundlichen, in einen raueren, mit vielen Scherzen und lautem Lachen. „Wenn es heiß ist, gehen die Leute grillen, saufen, was weiß ich. Wir sind immer hier“, sagt sie. Das Raue ist bei Sengül direkt, herzlich und auch lustig. Diesen Ton verdient man sich durch Nähe und Zeit.

Eine Frau in gehobenem Alter kommt rein, bleibt an der Tür stehen und sagt nach kurzer Begrüßung „Zweimal bitte“. Sengül weiß ohne Nachfrage, was gemeint ist, füllt zwei Kaffeebecher aus dem Vollautomaten und reicht sie der Frau. In der Zwischenzeit quatschen die beiden: Über junge Frauen, die sich bei den Temperaturen nicht warm genug kleiden und den Mann mit Vokuhila und Lederjacke, der mit einem Netz Zwiebeln in der Hand vor der Tür steht. „Der hat auch Hitze, wa?“, sagt die Kundin und geht, der Mann kommt rein. „Wat is‘ denn da bei euch in der Türkei los?“, fragt er und meint das Erdbeben, bei dem Tausende Menschen ihr Leben verloren. Sie sprechen kurz über das Thema, er bekommt ungefragt seinen Kaffee und setzt sich an den kleinen Tisch vor dem Büdchen. „Ein ehemaliger Taxifahrer“, sagt Sengül. „Wohnt auf der Zimmerstraße.“ Sie deutet in die Richtung. Seit fast 20 Jahren kenne sie ihn, da wisse man so einiges übereinander.

Wegen Menschen wie diesen macht ihr die Arbeit Spaß. Sie lernt verschiedenste Persönlichkeiten kennen. „Aus allen Schichten“, sagt sie. Professorinnen, Arbeitslose, Arbeiterinnen, Studierende und Rentner sind nur einige der Gäste. Für manche sei sie häufig eine Art Psychotherapeutin, „aber umsonst“. Die Stammkunden vertrauen ihr Sorgen und Probleme an, reden über ihre Leben. „Das bleibt natürlich alles privat“, versichert sie. Manche Nachbarn haben ein so großes Vertrauen in Yeter und Hüseyin Sengül, dass sie ihre Wohnungsschlüssel bei ihnen lassen, damit das Kind oder ein Freund diesen später abholen kann. „Das ist wie eine Familie“, sagt sie.

Der erweiterten Familie bringt man auch gerne etwas bei. Ein neuer Kunde kommt herein und sagt: „Da war ich aber froh, dass das Erdbeben nicht in deiner Region war.“ Das sei gar nicht weit weg, sagt Sengül und zaubert plötzlich eine große Landkarte der Türkei hervor, zeigt ihm darauf die Heimatstadt ihrer Familie. Sie selbst ist in Ratingen geboren, weitgehend aufgewachsen und lebt bis heute dort. Es folgt eine kleine Kulturkunde über die Besonderheiten der Menschen, die in den verschiedenen Regionen der Türkei leben. „Und da, da sind die Deutschen immer“, sagt sie und tippt auf ein paar Küstenorte, die besonders bei deutschen Touristen beliebt sind.

Als sie den Laden übernahmen, konnte Sengül gar nicht fassen, dass Menschen zum Kaffeetrinken in ein Büdchen gehen. Doch sie gewöhnte sich schnell dran: „Ich fand’ das süß“, sagt sie. Das habe alles lockerer und den Ort zu einem warmen gemacht. Sie genießt die Zeit mit ihren Stammkunden. Zu Anfang hätte sie wohl auch nicht gedacht, dass sie diesen die kulturellen Eigenheiten türkischer Regionen erklärt.

Das Büdchen an der Bilker Allee ist ein Nachbarschaftstreffpunkt. Hier kann man den urbanen Raum im Miniaturformat erleben. Wer möchte, bleibt in der Anonymität. Holt sein Paket ab, kauft Zigaretten, eine Zeitung – und geht. Wer die Gemeinschaft möchte, kann sie haben. Bleibt auf einen Kaffee, unterhält sich und kommt wieder. Vielleicht verdient man sich dann auch den etwas ruppigeren Ton – und viel Herzlichkeit.

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