Expertin zu Alkoholsucht „Alkohol ist ein Symptom für tiefgreifendere Probleme“

Interview | Düsseldorf · Ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland trinkt seit der Corona-Krise mehr Alkohol, das ergab eine aktuelle Studie. Denise Schalow, Leiterin der Suchtberatung der Diakonie in Düsseldorf erklärt, ab wann der Konsum kritisch wird.

 Denise Schalow leitet die Suchtberatung und das Therapiezentrum der Diakonie in Düsseldorf.

Denise Schalow leitet die Suchtberatung und das Therapiezentrum der Diakonie in Düsseldorf.

Foto: Gerald Biebersdorf

Ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland trinkt seit der Corona-Pandemie mehr oder sogar viel Alkohol, das ergab eine Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit. Haben Sie mit diesen Auswirkungen gerechnet?

Denise Schalow Ja, wir haben das durchaus befürchtet. Vor allem haben wir an die Menschen gedacht, die ohnehin bei uns in der Beratung sind. Aber der Lockdown hatte natürlch auch starke Konsequenzen für die Menschen, die zuvor noch nicht so große Probleme mit Alkohol hatten.

Welche waren das?

Schalow Durch den Lockdown hat sich der Konsum von Gaststätten und Kneipen in das eigene Zuhause verlagert. Damit wurde aber auch die soziale Kontrolle außer Kraft gesetzt. Das bedeutet, es guckte niemand mehr so recht zu. Gerade bei einer Suchterkrankung beobachtet man sich selbst nicht mehr so kritisch. Man findet immer wieder gute Gründe, warum man auch heute ein Glas oder auch ein Glässchen mehr trinken muss. Früher kommentierten da Freunde oder Familie schon mal die Trinkgewohnheiten, im häuslichen Umfeld fällt das bei vielen weg.

Wie erklären Sie sich grundsätzlich, dass der Konsum so angestiegen ist?

Schalow Alkohol ist eigentlich ein Symptom für tiefgreifendere Probleme. In diesen Zeiten leiden viele Menschen unter existenziellen Ängsten, Konflikte in der Familie haben sich verstärkt, und es sind Perspektiven weggebrochen. Klassicherweise sind es auch oft Frauen, die mit der Kombination aus Kinder versorgen, Homeschooling und Arbeit überlastet sind. In diesen persönlichen Notlagen wird Alkohol schnell zum vermeindlichen Problemlöser, Tröster oder er wird zur inneren Entlastung getrunken.

Was sind die Anzeichen für einen problematischen Alkoholkonsum?

Schalow Wenn man zum Beispiel beginnt an Zeitpunkten zu trinken, an denen man es früher niemals getan hätte. Wer früher etwa mittags niemals etwas getrunken hätte, weil er im Büro saß, sich jetzt aber erwischt, wie er zum Mittagessen regelmäßig ein Glas trinkt, sollte das hinterfragen. Wenn man merkt, dass man täglich oder häufiger als sonst trinken möchte, oder wenn man sich vornimmt, diese Woche nur an zwei Tagen zu trinken, aber dann keine Kontrolle darüber hat und doch mehr trinkt, sind das Anzeichen. Grundsätzlich merken in diesen Tagen sicher auch viele Menschen, dass ihre Toleranz für Alkohol gestiegen ist. Wo vorher ein Glas reichte, um sich ein bisschen zu entspannen, braucht es jetzt vielleicht zwei oder drei. Kurz: Wenn man zu früherer Uhrzeit, mehr Alkohol konsumiert und den Konsum nicht kontrollieren kann, obwohl es zum Beispiel auch aus gesundheitlichen Gründen wichtig wäre, sind das Zeichen für Missbrauch und eventuell für den Beginn einer Sucht.

Was raten Sie Menschen, die den Eindruck haben, ihnen entgleitet der Alkoholkonsum?

Schalow Erstmal sollte man sich hinterfragen: Wie viel trinke ich wirklich? Wie viel wollte ich trinken, und was habe ich wirklich getrunken? Wenn da ein Problem auftaucht, egal, wie groß es ist, sollte man vor allem darüber reden. Es ist wichtig, damit nicht alleine zu sein. Scham und Schuldgefühle gehen für Menschen mit Alkoholproblemen oft Hand in Hand mit der Entwicklung einer echten Suchterkrankung.

Man sollte sich also Freunden oder Familie anvertrauen?

Schalow Das ist die direkteste Hilfe, ja. Aber ich möchte auch sagen, dass es ein Irrtum ist zu denken, man könne nur in die Beratungsstelle kommen, wenn man schwer suchtkrank ist. Wer sich einfach Gedanken über seinen Alkoholkonsum macht und darüber mal mit einem Außenstehenden sprechen möchte, der ist bei uns genauso willkommen.

Die Situation für Suchtkranke war vor allem während des Lockdowns nicht einfach, weil viele Hilfsmechanismen wegfielen. Hat sich das gebessert?

Schalow Es hat sich etwas gebessert, aber weg ist das Problem nicht. Viele unserer Klienten haben neben der Alkoholsucht auch eine Angsterkrankung oder eine Depression. Sie machen sich besonders große Sorgen darüber, ob nochmal ein Lockdown kommen könnte oder eine zweite Welle, und wie es beruflich und sozial für sie weiter geht. Der Lockdown ist zwar vorbei, aber deshalb ist noch lange nicht alles wie vorher.

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