Ehrenamtliche Besucher der JVA Düsseldorf Ein Licht hinter Gittern

Düsseldorf · Simon hat mehr Zeit im Gefängnis verbracht als in Freiheit. Seit 125 Jahren besucht der Gefängnisverein Menschen wie ihn. Ein Kurzbesuch in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf.

 Zwei Beamte schließen Zellen in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf.

Zwei Beamte schließen Zellen in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Was ist das für ein Leben, in dem ein leicht vertrockenetes Lachsbrötchen und zwei Kerzenstummel das größte Glück sind? In der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf bläst Simon die zwei Kerzen aus, die den einfachen Holztisch im Begegnungszentrum an diesem Tag geschmückt haben. Er wird sie mit auf seine Zelle nehmen, ebenso wie den Rest der belegten Brötchen, die seit dem Nachmittag unter Folie auf die hungrigen Gäste des Katholischen Gefängnisvereins gewartet haben. Dass Simon bei der Feier zum 125-jährigen Bestehen des Vereins mit zahlreichen Gästen von außer­halb der Mauern dabei sein darf – auch das ist ein Glück. Doch neben den Kerzen ist das vielleicht Beste an diesem Abend für ihn Sabrina.

Was ist das für ein Leben, 44 Jahre lang, in dem mehr Geburtstage hinter Gittern gefeiert wurden als vor ihnen? Seit wenigen Wochen erst betreut Sabrina als Ehrenamtliche den Häftling Simon. Alle zwei Wochen besucht die junge Lehrerin ihn in einem schmucklosen Raum in der JVA. Es ist der Kern der Arbeit des Gefängnisvereins: Gespräche führen mit Inhaftierten, ihnen einen Kontakt geben in die Außenwelt, ein Bezugspunkt sein, mit dem man keine Vorgeschichte teilt. Dass Simon insgesamt schon 27 Jahre seines Lebens in Gefängnissen saß, erfährt Sabrina erst, als sie ihn zum ersten Mal trifft. Worüber die Gefangenen mit den Ehrenamtlern reden und worüber nicht, ob sie die Wahrheit über ihre Straftat erzählen oder nur eine bestimmte Version davon – das entscheiden sie selbst.

An diesem Tag ist Sabrina mit Dutzenden Gästen „von draußen“ in die JVA gekommen. Am Eingang: eine Schleuse aus dicken Glastüren. Weiße Flure mit Neonlicht. Ein langer Tunnel aus Glas. Er führt mitten über den riesigen Innenhof, auf dem große Schachfiguren verloren auf überdimensionierten Spielfeldern stehen. Gefangene rufen sich gegenseitig etwas durch die Gitterfenster zu. Was sie sagen, versteht man kaum. Aber dass einer von ihnen lacht, hört man. Am Ende des Ganges dann der Begegnungssaal. Ein achteckiger Raum, dessen holzvertäfelte Wände so verschoben sind, dass eine Nische mit Kreuz und Orgel sichtbar wird.

 Im Gespräch in der JVA: der Inhaftierte Simon (r.) mit Betreuerin Sabrina (vorne) und RP-Redakteurin Milena Reimann (r.) .

Im Gespräch in der JVA: der Inhaftierte Simon (r.) mit Betreuerin Sabrina (vorne) und RP-Redakteurin Milena Reimann (r.) .

Foto: Wolfgang Sieffert

Simon, im blauen Outfit aus Stoffpullover und Jogginghose, sitzt mit einigen anderen Inhaftierten bereits im Saal. Sie bilden an diesem Festtag – ebenso wie an Sonntagen – den Kirchenchor. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ist gekommen und spricht bei der Festmesse vom christlichen Verständnis, das die Ehrenamtler vom Gefängnisverein im Herzen trügen: keinen Menschen je aufzugeben.

Für Simon, der einen Rosenkranz um den Hals trägt, ist es das Schwierigste, sich nicht selbst aufzugeben. Dreimal, erzählt er, habe er schon versucht, sein Leben zu beenden. „Der Knast ist der Halt meines Lebens“, sagt er. Das tägliche Aufstehen um sechs Uhr. Die Stunde Arbeit am Morgen, wenn er die Zigarettenstummel im Innenhof aufsammelt. Das Mittagessen um zwölf Uhr, das Abendessen um 17 Uhr. Und dazwischen: immer wieder allein sein auf der Zelle. Mit vielen Menschen vor den Mauern hat Simon gebrochen – oder sie mit ihm. Seine Frau, so erzählt er, sei vor wenigen Jahren an einer Krankheit gestorben, seine Tochter wurde mit zwei Jahren überfahren. Was bleibt, sind die Besuche der Ehrenamtler. Was bleibt, ist nun Sabrina.

Seit rund sechs Jahren betreut Sabrina Straftäter ehrenamtlich. „Ich möchte etwas Normalität in den Alltag bringen“, sagt sie. Sind die Anmeldeprozeduren und die Schulungen vorab erledigt, sei das auch nicht so schwer: einfach reden. Über das Erdkunde-Quiz, dass sie mit ihren Schülern gemacht hat. Über Pfannekuchen mit Zimt, die Simon bei den seltenen Gelegenheiten im Gefängnis so gerne kocht. Als Sabrina noch in ihrer Studienstadt Münster Gefangene besucht hat, gab es Gruppentreffen, bei denen sie Poker gelernt hat oder ein paar Brocken Arabisch. Angst vor den Begegnungen hatte sie nie, auch wenn sie vorher nie wusste, was die Menschen hinter Gittern jemand anderem angetan hatten. Hauptsache keine Nazis – das hatte sie zur Bedingung gemacht, als sie das Ehrenamt antrat.

Was ist das für ein Leben, das schon mit 14 Jahren aus dem Ruder gelaufen ist? Mit einem Diebstahl fing alles an, sagt Simon, ob es ein Fahrrad war oder etwas anderes – so genau weiß er das nicht mehr. Er erzählt von Raubüberfällen und wie er seinen Bruder aus einem Polizeiauto befreite. Und von seiner Clique, von der er Anerkennung wollte. „Ich war der Schlimmste in Düsseldorf.“ Er sagt es mit einem müden Lächeln.

„Diese Besuche“, sagt Sabrina, „erden mich.“ Ihre eigenen Probleme und Alltagssorgen erscheinen dann plötzlich ganz klein. „Diese Besuche“, sagt Simon, „sind gut für die Seele.“ Sein Alltag im Gefängnis, die schmerzhaften Erinnerungen an seine verlorene Familie – sie verblassen für eine gute Stunde.

Mit den Kerzen in der Hand verabschiedet sich Simon von Sabrina. Auf der Zelle, sagt er, wird er die Kerzen anzünden. „Eine für meine Frau, und eine für meine Tochter.“ Was das für ein Leben ist? Man kann es nur erahnen.

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