Stadtgeschichte: Siedlung der Heimatvertrieben Das Schicksal schweißt zusammen
Stadtgeschichte: Siedlung der Heimatvertrieben · Wenn Lieselotte Schmitz aus ihrer Jugendzeit erzählt, schießen ihr noch heute Tränen in die Augen. So idyllisch ihr verwinkeltes Häuschen an der Wartburgstraße auch liegen mag, ihr "Umzug" nach Dormagen vor 52 Jahren hat einen tragischen Hintergrund, der jetzt noch nachwirkt.
"Tröstlich" findet die 69-Jährige nur, dass sie ihr Schicksal zumindest mit allen älteren Bewohnern der evangelischen Siedlergemeinschaft teilen kann. Denn auch die Nachbarn sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat in Osteuropa vertriebenen worden. Rückblick: Lieselotte Schmitz, geborene Voss, wächst in Pommern nahe Danzig auf. Nach Kriegsende bekommt sie als junges Mädchen den Hass auf die Deutschen zu spüren. Russische Soldaten ziehen durch die Straßen, zerstören, plündern, vergewaltigen. Im Sommer 1947 muss die Familie ihre Heimat - in der Zwischenzeit polnisches Gebiet - Hals über Kopf verlassen. Sie werden mit ihrem wenigen Hab' und Gut, das ihnen verblieben ist, an die deutsche Grenze gebracht, ihrem Schicksal überlassen.
Drei Jahre wird es dann noch dauern bis ihre Eltern, ihre Geschwister und sie in einem sicheren Hafen landen: Und der heißt Dormagen. Dazwischen liegen Lageraufenthalte in Pulsnitz - zwischen Danzig und Leipzig gelegen - in Nordhausen, Friedland, Gummersbach. Der Vater, Emil Voss, fand "Gott sei Dank" Arbeit bei einem Tiefbau- und Straßenbauunternehmen in Berlin, was die Familienzusammenführung aber noch schwieriger machte. "Wir wollten gemeinsam nach Westdeutschland", sagt Lieselotte Schmitz. Um ihr Ziel zu erreichen, wenden sie Tricks an. So schließt sich die Familie Voss zum Beispiel "einer Frau Lange" an. "Sie hatte eine Genehmigung, den russischen Sektor zu verlassen", erzählt Lieselotte Schmitz. "Wir gaben uns als Familienmitglieder aus. Die Grenzposten merkten es nicht." Geschafft: In Gummersbach, im Lager wo auch Kriminelle interniert sind, stellen sich die Weichen für eine bessere Zukunft.
Für den Bau einer Selbstversorger-Siedlung in Dormagen sucht die Gemeinnützige Bau-Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks der evangelischen Kirchen Deutschlands 48 Handwerker und Bauarbeiter. Bedingungen: Jeder angehende Siedler verpflichtet sich, Arbeiten im Wert von 5.000 Mark abzuleisten, "was bei einem Stundenlohn zwischen 1,50 und 2,50 Mark eine echte Schufterei war", weiß Lieselotte Schmitz. Außerdem mussten die Siedler so genannte "Einlieger" (Mieter) aufnehmen. Trotzdem: Emil Voss meldet sich. "Baubeginn der Häuser an der Wartburgstraße war Schützenfest Samstag 1950", erinnert sich Lieselotte Schmitz, "ein heißer, sonniger Tag". Eine Mischmaschine mit Wasserkasten und ein altes Förderband für die Erdbewegungen waren die einzigen technischen Hilfsmittel, "ausgeschachtet wurde zum Teil per Hand", sagt sie.
"Die Männer, meist die einzigen Verdiener, kamen von ihrer Arbeitsstelle direkt zur Baustelle. Pause wurde nur gemacht, wenn an manchen Sonntagen Pfarrer Stockkamp im Rohbau eine kurze Andacht hielt." Lieselotte Schmitz, inzwischen 18 Jahre alt, legt derweil auf dem etwa 1.000 Quadratmeter großen Grundstück einen Garten an, wo sie Gemüse pflanzt und das Schwein, die Hühner und die Gänse versorgt. Endlich: Im September 1951 ist der erste Bauabschnitt mit acht Doppelhäusern - sechs an der Wartburgstraße und jeweils eins an der Gneisenaustraße und Breslauer Straße - bezugsfertig. In einem 110 Quadratmeter großen Haus mit sechs Zimmern und zwei Küchen finden Lieselotte Schmitz, ihre Eltern, ihr Bruder mit Schwägerin und Kind sowie ihre Schwester und deren Tochter Platz. Danach werden noch fünf weitere Doppelhäuser an der Gneisenaustraße und zwei an der Schillerstraße fertig gestellt. Als Reichsheimstätte wird die Siedlung 1956 anerkannt und 1960 an die Siedler übereignet.
Heute lebt Lieselotte Schmitz allein an der Wartburgstraße 9. Den großen Garten hat sie nun zum Bauland erklärt. Ihre Tochter will dort ein Haus errichten. Dass sich auch die Nachkommen mit dem Schicksal ihrer Eltern und Großeltern verbunden fühlen zeigen nicht zuletzt die vielen Feste des Siedlervereins, bei dem Lieselotte Schmitz Schriftführerin ist. "Zum 50-jährigem Bestehen der Gemeinschaft kamen alle", betont sie. Und auch Nachbarschaftshilfe wird bei den 30 Familien groß geschrieben: "Wenn jemand krank ist, wird er gepflegt, wer seinen Rasen aus Altersgründen nicht mehr mähen kann, dem wird geholfen. So etwas kann man nicht bestellen", meint Lieselotte Schmitz. Aus den einst Entwurzelten ist in Dormagen eine große Familie geworden. Gemeinsame Aktivitäten gehören zum Alltag, manchmal auch Ausflüge in die nahe Umgebung. "Wir hängen an unserer Siedlung." Saskia Zeller