Neu in der Stadtbibliothek Staunend auf ein ganzes Leben blicken

Dinslaken · Mit vier Jahren, im Sommer des Jahres 1902, kommt Andreas Egger aus der Stadt in ein kleines Alpen-Dorf, in die Obhut des Bauern Kranzstocker. Statt dort Fürsorge und Geborgenheit zu erfahren, muss er von klein auf hart arbeiten und wird regelmäßig vom Bauern durchgeprügelt - einmal so schlimm, dass ein Bein bricht und er zum Krüppel wird.

Mit 18 Jahren verlässt Andreas diese Schreckenswelt und verdient sich sein Geld erst mit wechselnden Hilfsarbeiten, dann als Seilbahn-Arbeiter. Er lernt Marie kennen, die seine Braut wird und lebt mit ihr auf einem eigenen kleinen Anwesen - bis eine riesenhafte Lawine ihm in einer Nacht Frau und Haus nimmt.

Der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erzählt in seinem fünften Roman "Ein ganzes Leben" vom harten und kargen Leben und vom Sterben des Andreas Egger in einem lakonischen Chronikstil. Der Verlust Maries, über den Andreas nie hinwegkommt, bleibt nicht der einzige Schicksalsschlag in seinem Leben. Er wird am Ende des Zweiten Weltkrieges noch an die Ostfront geschickt und hat acht Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft zu überstehen. Er findet nach dem Tod Maries nie mehr aus seiner inneren Einsamkeit heraus und verliert am Ende seines Lebens auch noch seine geistige Orientierung. Und doch wird Andreas nie verbittert, sondern nimmt sein Leben so, wie es eben ist, hält die glücklichen Lebensmomente in seinem Bewusstsein fest und schöpft immer wieder neuen Lebensmut aus der Erfahrung, dass alle Schicksalsschläge ihn auch stärker gemacht haben. Einsam, aber mit seinem Leben versöhnt stirbt Andreas Egger mit 79 Jahren.

Der perfekt gebaute und bewegend erzählte Roman konfrontiert seinen Leser mit existenziellen Fragen: Wie soll man sich dem unvermeidlichen Leid im Leben gegenüber verhalten? Wie seine Würde im Unglück bewahren? Und wie dem Tode entgegensehen? Antworten auf diese Fragen gibt die Lebensgeschichte des Andreas Egger, der alle Herausforderungen seines Lebens annimmt, dem die Erinnerung an das erfahrene Glück und die Liebe zu seiner Bergwelt die Kraft geben, auch Schwerstem standzuhalten, der nie resigniert, sondern immer wieder einen neuen Anfang macht.

Am Ende seines versagungsreichen Lebens zieht er Bilanz: "Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen." Dr. Ronald Schneider

SEETHALER, ROBERT: EIN GANZES LEBEN. ROMAN; HANSER VERLAG: 2014

(RP)
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