Viele Zuhörer Richter Schleif trifft den Nerv der Zeit
Voerde · Premiere in der Voerder Buchhandlung „Lesezeit“: Die erste Lesung aus „Urteil: ungerecht“ des Dinslakener Amtsrichters fand Riesenresonanz. Das Buch polarisiert nicht nur, der Vertrauensverlust in die Justiz ist schon da.
Die Lesung von Thorsten Schleif aus seinem neuen Buch „Urteil: Ungerecht“ über die Misere der Justiz in Deutschland war aus mehrfacher Sicht bemerkenswert. In der Voerder Buchhandlung „Lesezeit“ fand unverhofft die bundesweite Premierenlesung statt, Buchhändlerin Sabine Friemond-Kund bewegte sich zwischen Begeisterung und Überraschung. Unerwartet groß war auch der Andrang im Laden an der Bahnhofstraße, der bis in den letzten Winkel mit Zuschauerstühlen bestückt wurde. Unverhofftes lieferte zudem der Autor selbst. Er sei überwältigt, auch weil in zehn Tagen 5000 Bücher verkauft worden seien, der Verlag nachdrucke und die Medienaufmerksamkeit enorm sei. Thorsten Schleif hat offensichtlich den Nerv der Zeit getroffen, und der besagt, dass Zweifel an der Justiz verbreitet sind. Der Amtsrichter als Kritiker gerät auch in der eigenen Zunft ins Blicklicht. Er habe 250 positive Aussagen, vielfach von Richterkollegen, aus dem ganzen Bundesgebiet bekommen. Erwartet habe er als „Nestbeschmutzer“ viel mehr „Gegenwehr“ als nur vereinzelte Kritik.
Dabei urteilt der Dinslakener Amtsrichter hart, aber klar und wissend über den Zustand der deutschen Justiz. Der Buchtitel „Ungerecht“ trifft die Botschaft. Zwar fällt der populäre Begriff „Kuscheljustiz“, der macht aber nur griffig, wie zwiespältig und mit minimierter Wirkungskraft geringfügige Urteile bleiben.
Doch Schleif, bekannt als harter, aber fairer Richter, schreibt genau und sachlich. Er baut sein Buch und seine Situationsbeschreibung strukturiert auf, berichtet faktenreich aus der Realität vor Gericht, garniert seine beispielhaften Fälle mit Ironie und Witz. Das tut er auf eine trockenhumorige, sehr wissende Art. Die gespannte Zuhörstille reicht so bis zum Ende einer ungewöhnlichen Lesung und für eine abschließende Diskussion. Schleif schafft es, ein schwieriges Thema nachvollziehbar zu machen, auf – nicht emotionsfreies – Rechtsempfinden und dröge juristische Rahmenbedingungen gleichermaßen einzugehen.
Der Richter nennt in der Lesung viele Beispiele dafür, wie teils „butterweich“ üble Körperverletzungen oder Raserrennen beurteilt worden sind. Skandal- und Fehlurteile würden zunehmen. Der Amtsrichter nennt auch die magische „90“ im Richterleben. Das ist das Limit für die Tagessätze Geldstrafe, damit eine Strafe nicht in Führungszeugnissen auftaucht. Viele Richtersprüche enden hier und beinhalten den Hinweis, man wolle den Delinquenten nicht die Zukunft verbauen. Zu viele, findet der Dinslakener. Thorsten Schleif kritisiert auch die Richterausbildung, die Bezahlung, die die Top-Juristen direkt in Großkanzleien treibt und die mäßig benoteten Juristen an die Gerichte, die mangelhafte Ausstattung der Büros, die Überforderung der Justiz sowie die Ineffizienz der Gerichte, die aus seiner Sicht zu häufig zu milden, weil arbeitsbelastungsmindernden Urteilen führen.
Er geißelt die Unkultur von Richtern, bloß nicht durch Fehler aufzufallen. Schleif befürchtet nicht nur einen Vertrauensverlust der Bürger in die Justiz, er diagnostiziert ihn. Vier von zehn Bürgern seien misstrauisch gegenüber der Justiz. Er belässt es nicht bei dieser Feststellung, denn weniger Zutrauen und Respekt gegenüber der Rechtsprechung bedeute auch weitreichende Konsequenzen bis in die Grundfesten des Staates. Darum drehte sich auch die abschließende Publikumsdebatte. Sie verdeutlichte, dass milde Urteile auf Unverständnis stoßen, und es erhebliche Sorgen gibt, ob sich der Rechtsstaat dauerhaft durchsetzen kann. Thorsten Schleif forderte nicht nur Geld, sondern auch die Einsicht bei der Regierung, dass die Justiz Priorität genießen muss.
Er gibt auch den Richtern selbst Schuld an der Misere, die würden nicht genug einfordern und zu sehr stillhalten. Das wiederum passt zur Systemkritik Schleifs. Die Unabhängigkeit der Justiz sei in vielen Staaten der Europäischen Union in Großbritannien oder den USA wesentlich größer.
In der Bundesrepublik Deutschland hingegen bestimme ein Relikt aus Nazizeiten, dass der Staat Auswahl und Beförderung der Richter bestimmt, statt dass eine strikte Trennung der Staatsgewalten herrscht – die Gerichtsverfassungsverordnung von 1935.