Justiz-Schelte aus Dinslaken Richter rechnet mit „Rabatt“-Rechtsprechung ab

Dinslaken · Mit Kritik an der eigenen Zunft hat Amtsrichter Thorsten Schleif vor einiger Zeit für Aufsehen gesorgt. Nun legt der Jurist nach und schießt erneut gegen „Rabatt-Richter“ und „Kuscheljustiz“.

 Amtsrichter Thorsten Schleif.

Amtsrichter Thorsten Schleif.

Foto: dpa/Thomas Frey

Bewährungsstrafen für lebensgefährliche Messerangriffe, Bewährungsstrafen für Kindesmissbrauch: Gibt es sie wirklich, die „Kuscheljustiz“, die sogar Wiederholungstätern und Bewährungsversagern mit großer Milde begegnet? Ja, sagt Amtsrichter Thorsten Schleif (42) aus Dinslaken am Niederrhein.

Vor drei Jahren sorgte er mit seinem Buch „Urteil: ungerecht“ für einen Paukenschlag. Nun hat er nachgelegt, plaudert aus dem Nähkästchen, nennt Zahlen, echte Fälle und geht mit der eigenen Zunft erneut hart ins Gericht. „Wo unsere Justiz versagt“ heißt sein neues Buch (riva Verlag, 224 Seiten).

Seinem Ruf als Nestbeschmutzer macht der Richter dabei erneut alle Ehre: Er wirft vor allem den Landgerichten eine „Rabattmarken“-Justiz vor und der Richterschaft einen Mangel an Mut. Seit seinem Buch vor drei Jahren habe sich leider nichts zum Positiven gewendet, sagte Schleif der Deutschen Presse-Agentur.

Gefährliche Körperverletzung: Obwohl der Gesetzgeber die Höchststrafe für gefährliche Körperverletzung 1998 auf zehn Jahre verdoppelt hat, kommen die Täter in gut 80 Prozent der Fälle mit Bewährungsstrafen von maximal zwei Jahren davon. In weniger als einem Prozent der Fälle liegt die Höchststrafe über fünf Jahren. Landgerichte reichten Anklagen sogar bei lebensgefährlichen Messerattacken an die Amtsgerichte weiter - schon damit wird die Höchststrafe auf vier Jahre begrenzt.

Angriffe auf Polizisten: Obwohl diese Taten stark zugenommen haben und für den „tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ seit 2017 fünf Jahre Höchststrafe und drei Monate Haft als Mindeststrafe drohen, werde daraus vor Gericht ein Bagatelldelikt, das in 60 Prozent der Fälle mit Geldstrafen geahndet werde.

Kindesmissbrauch: Bei sexuellem Kindesmissbrauch seien 82 Prozent der Freiheitsstrafen im Jahr 2019 zur Bewährung ausgesetzt worden. Zwar sei der Strafrahmen seither erhöht worden, aber warum sollten Richter, die schon den geringeren Rahmen nicht ausgeschöpft hätten, dies plötzlich mit einem höheren Rahmen tun, fragt Schleif. Das habe schon bei der Körperverletzung nicht funktioniert.

Kinderpornografie: Der „kleine“ Kindesmissbrauch, Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie, werde auch so bestraft. In nur 58 Prozent der Fälle wurde 2019 eine Freiheitsstrafe verhängt, die aber in mehr als 90 Prozent der Fälle zur Bewährung ausgesetzt werde. In weniger als einem Prozent der Fälle mussten die Täter tatsächlich ins Gefängnis. Auch mehrfache Wiederholungstäter würden verschont.

Illegale Autorennen: Dafür werden laut Statistik in nur weniger als sechs Prozent der Fälle Freiheitsstrafen verhängt und ins Gefängnis muss nur ein Prozent der Verurteilten. Selbst bei Unfällen mit Todesopfern seien Bewährungsstrafen die Regel, obwohl der Bundesgerichtshof diese laxe Praxis 2017 deutlich gerügt habe.

Rabatt-Rechtsprechung: Die Verringerung der Strafe in der Berufungsinstanz sei die Regel. Mit manchmal haarsträubenden Begründungen komme sie auch Rückfalltätern und sogar Bewährungsversagern zugute, also Tätern, die unter Bewährung stehend rückfällig werden und die laut Gesetz eigentlich hinter Gitter gehörten.

Revisionsangst: Dass ihnen die Revisionsinstanz Rechtsfehler attestiert, empfinden Richter offenbar als Schande, die sie zu vermeiden suchen - durch milde Urteile. Denn das Risiko, dass ein Angeklagter gegen ein Urteil in die Revision zieht, sei statistisch gesehen 30 Mal höher als eine Revision durch die Staatsanwaltschaft.

Überlastung: Scheidet als Ursache für den Kuschelkurs aus, glaubt Schleif. Während ein Strafrichter am Amtsgericht durchschnittlich 400 Fälle pro Jahr verhandelt, seien es bei der Strafkammer eines Landgerichts durchschnittlich nur rund 30 Fälle. „Und die Urteilsbegründungen müssen so oder so geschrieben werden, egal, wie hoch die Strafe ausfällt.“

Abhilfe: Wenn sich die Politik wie derzeit in Nordrhein-Westfalen über die vielen blutigen Messerattacken aufregt, warum tut sie dann nichts dagegen, fragt Schleif. Die Justizminister könnten die Staatsanwaltschaften anweisen, gefährliche Körperverletzungen durch Messerattacken grundsätzlich bei den Landgerichten anzuklagen - und gegen die Verweisung an die Amtsgerichte konsequent Beschwerde beim Oberlandesgericht einzulegen.

Mehrmals hätten solche Beschwerden Erfolg gehabt: Sobald die Oberlandesgerichte die Landgerichte anwiesen, die Fälle selbst zu verhandeln, seien deutlich höhere Strafen dabei herausgekommen.

Das NRW-Justizministerium ist dagegen auf dpa-Anfrage der Ansicht: Eine solche Weisung des Ministers wäre verfassungswidrig. Diese komme in Nordrhein-Westfalen nur in Betracht, wenn der zuständige Generalstaatsanwalt bei Rechtsfehlern nicht einschreitet.

Schleif hält das für eine Ausrede: Eine nicht auf einen Einzelfall bezogene Weisung sei vom Weisungsrecht des Justizministers gedeckt. Mindestens könnte er dies den Staatsanwaltschaften schriftlich empfehlen. Aber auch das habe er nicht getan.

(th/dpa)
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