Eyüp Yildiz "Müssen aufhören, uns abzugrenzen"

Dinslaken · Dinslakens Vizebürgermeister zur Integrationsdebatte im Zeichen der Fußballweltmeisterschaft. Warum die Diskussion seiner Ansicht nach zurzeit in die völlig falsche Richtung läuft.

 Dinslakens stellvertretender Bürgermeister Eyüp Yildiz

Dinslakens stellvertretender Bürgermeister Eyüp Yildiz

Foto: mb

Herr Yildiz, am 14. Juni beginnt die Fußballweltmeisterschaft. Im Vorfeld haben die Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil eine heftige und kritische Debatte über ihren Beitrag zur Integration ausgelöst, weil sie sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan getroffen haben. Sie arbeiten mit Jugendlichen in Lohberg. Haben die Nationalspieler tatsächlich so eine große Bedeutung als Vorbilder für gelungene Integration?

Eyüp Yildiz Na ja, wir sollten uns erst einmal einfach die Fakten klar machen. Das sind zwei junge Männer, die hinter einem Ball herlaufen und gelegentlich schöne Tore und geniale Pässe produzieren. Nichtsdestotrotz war der erhobene Zeigefinger seitens der Gesellschaft und der Politik berechtigt und auch nötig. Herr Erdogan ist ja nicht einfach Präsident des wunderschönen Landes Türkei. Er ist ein Despot und wirft Andersdenkende in den Kerker, ohne dass er dafür eine rechtsstaatliche Legitimation hätte. Was mich allerdings stört, ist das Scheinheilige in dieser Diskussion. Der Bundessicherheitsrat hat im Januar genehmigt, dass Rüstungsgüter im Wert von vier Millionen Euro an Erdogan geliefert werden. Das heißt, während wir Özil und Gündogan, diesen beiden Fußballspielern, berechtigterweise den erhobenen Zeigefinger gezeigt haben, haben wir mittelbar den 300.000 Bewohnern von Afrin, die mit Hilfe von deutschen Waffen eingekesselt wurden, den Mittelfinger gezeigt. Es ist berechtigt, Gündogan und Özil zu kritisieren. Wer das tut, sollte aber immer auch die eigene Rolle hinterfragen. Grundsätzlich finde ich, dass die Diskussion über Integration, über die wir ja seit Jahren reden, zurzeit in die völlig falsche Richtung läuft.

Woran machen Sie das fest?

Yildiz Nach meiner Ansicht wird der Begriff Integration inzwischen in der Regel dazu verwendet, um deutlich zu machen, dass Anderssein ganz grundsätzlich gefährlich ist. Es geht um Indoktrination, um Abgrenzung. Wer sich nicht integriert, nicht so wie wir wird, ist anders und bleibt ausgegrenzt. Deswegen diskutieren wir solche Fragen, wie die, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Das ist Kindergartenniveau. Spielen wir jetzt im Sandkasten zusammen oder nicht? Der Islam, das müssen wir zur Kenntnis nehmen, ist einfach da, und wir leben alle zusammen in einem Land, dessen Grundgesetz für alle gilt. Alle Menschen, die andere aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzen, müssen sich einfach ganz prinzipiell die Frage stellen, ob sie hier richtig aufgehoben sind. Nun gibt es leider einige, die nicht die Begabung haben, sich kritisch zu fragen, ob das, was sie tun, im Einklang mit unserem Grundgesetz steht. Bei denen hilft dann Aufklärung. Es gibt aber Menschen, die sind beratungsresistent, da müssen wir dann konsequent die bestehenden Gesetze anwenden. Da ist es doch sinnlos darüber zu reden, ob eine Religion zu diesem Land gehört oder nicht.

Sie leben und arbeiten in Lohberg. Mal aus Ihrer praktischen Erfahrung heraus. Wenn der Begriff Integration nicht zur Abgrenzung missbraucht werden soll, sondern er bedeutet, das Vielfältige zusammenzubringen, müssen dann nicht gerade deswegen die Probleme, die im alltäglichen Zusammenleben entstehen, klar angesprochen werden?

Yildiz Absolut. Das ist ja nun schon seit Jahren mein Thema. Und Gesellschaft und Politik müssen sich leider vorwerfen, dass sie diese Diskussion nun schon seit Jahren nicht geführt haben.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung ist gerade auf Distanz zur Ditib gegangen.

Yildiz Ja, aber sehen Sie sich doch mal an, wie bislang gehandelt worden ist. Jahrelang hat die Politik die von der türkischen Religionsbehörde gelenkte Abgrenzungspolitik der Ditib toleriert oder sogar hofiert - auch in Dinslaken. Nun fragen sich doch die Menschen, die in die Moscheen gehen und die das jahrelang erlebt haben, was an der Ditib auf einmal falsch sein soll und verstehen das nicht. Wir haben Abgrenzung viel zu lange zugelassen und wenn sich Tendenzen verankert haben - und zwar auf beiden Seiten, ist es sehr schwierig, das wieder aufzubrechen. Leider ist es so, dass die Politik immer noch die Abgrenzungsbestrebungen bedient. Schauen wir uns die Erdoganisten an mit ihrer totalitären, frauenfeindlichen Ideologie. Sie betonen ständig die osmanische Überlegenheit und wollen damit den Menschen eine starke Identität suggerieren. Und ein bayerischer Ministerpräsident wie Markus Söder reagiert darauf mit seinem Kreuzerlass. Glücklicherweise hat Kardinal Reinhard Marx hier die Dinge ins rechte Licht gerückt und darauf hingewiesen, dass das Kreuz nicht Zeichen einer speziellen Kultur ist, sondern ganz allgemein für Menschlichkeit und Gerechtigkeit steht. Politik dagegen geht es viel zu oft um Abgrenzung. Mir scheint, dass wir es im Laufe der Menschheitsgeschichte noch immer nicht geschafft haben, das archaische Hordendenken abzuschütteln. Im Gegenteil: Es wird immer mehr salonfähig und ist inzwischen auch noch gepaart mit professionalisierter Heuchelei, was aus meiner Sicht die Situation hochexplosiv macht. Was auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zurzeit passiert, ist ein Exzess der Oberflächlichkeit. Man denkt sich eine Grenze aus und diese Grenze muss verteidigt werden. Es gibt ja viel, worüber man sich angesichts der wachsenden Globalisierung Sorgen machen muss, aber Abschottung kann keine Antwort sein. Die Frage ist, was können wir tun.

Welche Antwort geben Sie?

Yildiz Der Schlüsselbegriff ist Bildung. In diesem Land geben wir lediglich fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung aus. Für das Land der Dichter und Denker ist das beschämend. Die Bildungsausgaben müssten deutlich aufgestockt werden. Und wir müssen die Vermittlung der Grundwerte zum Pflichtfach machen - allerdings nicht nur für Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund, sondern für alle. Wir sollten aber nicht außer Acht lassen, dass die Vermittlung von Werten auch nicht viel weiterhilft, wenn das Umfeld, in dem junge Menschen aufwachsen, geprägt ist von Arbeitslosigkeit und Entfremdung, was den Boden für Extremismus bereitet. Wenn wir uns zum Beispiel die Folgen der Zechenschließung in Lohberg, wo eine hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht, anschauen und zur Kenntnis nehmen, dass aktuell in der Region wieder 4000 Arbeitsplätze bei Thyssenkrupp gefährdet sind, dann sehen wir, dass wir den Strukturwandel noch lange nicht bewältigt haben, obwohl beispielsweise nach Lohberg viele Millionen Euro geflossen sind. Wir dürfen mit unseren Anstrengungen, den Menschen Perspektiven zu geben, nicht nachlassen.

JÖRG WERNER STELLTE DIE FRAGEN.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort