Dinslaken "Magnificat" als tosendes Klangerlebnis

Dinslaken · Der Madrigalchor begeistert mit gleich drei Vertonungen das Publikum in der Sankt-Vincentius-Kirche.

 Im Konzert des Madrigalchors funkelten nicht nur die Scheinwerfer in der Vincentius-Kirche. Chor, Solisten und Orchester glänzten in den drei Magnificat-Vertonungen von Johann Sebastian Bach, seinem Sohn Carl Philipp Emanuel und dem eigens aus Berlin angereisten Avantgarde-Komponisten Dieter Schnebel.

Im Konzert des Madrigalchors funkelten nicht nur die Scheinwerfer in der Vincentius-Kirche. Chor, Solisten und Orchester glänzten in den drei Magnificat-Vertonungen von Johann Sebastian Bach, seinem Sohn Carl Philipp Emanuel und dem eigens aus Berlin angereisten Avantgarde-Komponisten Dieter Schnebel.

Foto: Heinz Kunkel

Irgendwann wird das Publikum selbst zum aktiven Teil des Konzerts. Gemeinsam mit dem Madrigalchor singt es als Gemeinde "O Heiland, reiß die Himmel auf", während die Orgel von Sankt Vincentius nicht die Melodie stützend begleitet, sondern gegen diese dissonant und dunkel tösend ankämpft. Das Antiphon nach Friedrich Spees geistlichem Gedicht von 1622 ist Teil des "Magnificats" von Dieter Schnebel aus den Jahren 1996/97, einem von drei Vertonungen des neutestamentarischen Hymnus an diesem Sonntag. Und während das Publikum den Magnificats von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach lauschen durfte und nur erahnen konnte, welche gesangliche Herausforderungen die Koloraturen nicht nur den Solisten, sondern auch dem Chor abverlangten, erlebte man im Gemeindegesang, was es bedeutet, die Stimme zu halten, wenn um einen herum alle harmonischen Gerüste einstürzen.

Dieter Schnebel (85) war eigens aus Berlin angereist, um "Dreimal Magnificat" in Sankt Vincentius zu erleben. Es muss auch für ihn die Reise wert gewesen sein. Das Konzert unter der Gesamtleitung von Christoph Scholz begann mit der Vertonung von Carl Philipp Emanuel Bach von 1749, mit der der damals 35-Jährige gerade im direkten Vergleich mit dem Magnificat seines Vaters von 1723 seine damals radikale Modernität unter Beweis stellte.

Während der gesamten Barockzeit ruhte der Mensch in sich und seiner Umgebung. Natürlich durchlebte er auch in der Musik alle Gefühle, fanden Furcht, Angst und Kämpfe im Klang Ausdruck. Aber in sich ist jedes Stück Musik gefestigt, es wird von einem einzigen Affekt bestimmt. Darauf kann man sich auch bei Bach Vater verlassen. Und der Schönheit des Sopran- und Alt-Terzetts von Karin Gyllenhammar, Johanna Killewald und Angela Froemer, der wunderbaren Solo-Barockoboe aus den Reihen der Capella 94 und der prächtigen Schlussfuge des Madrigalchors lauschen.

Wie anders dagegen schon das Magnificat seines berühmtesten Sohnes. Zwar vertont er auch die Herrlichkeit Gottes mit Pauken und Trompeten. Aber seine Musik ist ein Wechselbad der Gefühle auf eng-stem Raum, befeuert vom Spiel des Orchesters. In engster Chromatik bebt der Chor vor der transzendent höheren Macht und wenn es auf Latein heißt, "Er stürzt die Mächtigen vom Thron", so zieht C.P.E. Bach dem Duett von Alt und Tenor das harmonische Fundament durch Akkordfortschreitungen sozusagen unter den Füßen weg. Noch eine Generation nach dem Hofcembalisten von Friedrich II., und das Volk selbst wird sich erheben.

Dieter Schnebel entfesselt diesen "sozialrevolutionären Impetus" des neutestamentarischen Textes mit aller Macht. Und stellt sein "Magnificat" zugleich in die älteste Tradition. Nachdem der Chor rhythmisch sprechend in den vorderen Teil der Kirche eingezogen ist und sich entlang der Wände um das Publikum gruppiert hat, singt oben die Schola aus Solisten und einzelnen Chormitgliedern das Magnificat als gregorianischen Choral. Der Chor unten greift die einzelnen Töne aus, summt sie, wie sie in der Akustik einer Kathedrale als Nachhall im Raum stehenbleiben würden. Doch dann steigern sich Sprach- und Choralfetzen zusammen mit dem atonalen Brausen und Tosen der Orgel zur Kakophonie, in der kein harmonischer Baustein auf dem anderen stehen bleibt. Ein Klangerlebnis, so schrecklich und gewaltig, wie die 182-taktige "Amen"-Doppelfuge von C.P.E. Bach zuvor für ihre Zeit jeden Maßstab sprengte.

Sehr, sehr langer Applaus des Publikums und ein persönlicher Händedruck von Dieter Schnebel für Christoph Scholz am Ende dieses beeindruckenden Konzertes.

(RP)
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