Dinslaken Liebe und Tod im Alptraum-Hotel

Dinslaken · Das Publikum in der Dinslakener Kathrin-Türks-Halle jubelte, der Beifall für das Landestheater Burghofbühne wollte nicht enden: Lars Helmer feierte mit seiner Inszenierung "Hotel zu den zwei Welten" eine überragende Premiere.

"Koma kann ganz lustig sein." Der Magier Radschapur spricht aus Erfahrung. Seit sechs Monaten liegt seine sterbliche Hülle verschlaucht und verkabelt in einem Krankenhaus auf der Intensivstation. Doch davon spürt der Mann, der sich als Rummeplatz-Wahrsager durchs Leben schlug, nichts. Es geht ihm wie allen Gästen, die im "Hotel zu den zwei Welten" eingecheckt haben, diesem merkwürdigen Ort, an dem die irdischen Privilegien außer Kraft gesetzt sind und körperliche Schmerzen nicht existieren. Sie liegen im Koma, sind zwar nicht tot, lebendig sind sie aber auch nicht mehr. Und sie warten auf den Aufzug. Er bringt die Entscheidung: Dürfen sie nach unten fahren, zurück ins irdische Leben? Oder geht es hinauf, einem ungewissen Ziel entgegen. Ins Nichts womöglich? Ins Paradies oder die Hölle?

Der verbiesterte Präsident

Die Putzfrau Marie (Christiane Wilke gibt sie als Naivchen mit Herz und Schnauze) ist vor den Augen ihres Chefs zusammengebrochen. Den verbiesterten Präsidenten Delbec hat ein Radfahrer umgefahren. Der Alte schlug mit dem Kopf gegen eine Gartenbank. Die junge Laura war schon einmal hier. Das Herz bereitet ihr Probleme. Nur eine Transplantation kann sie retten. Dann kommt ein Neuer: Julien, ein Sportjournalist, der im Vollrausch mit 200 Sachen gegen einen Baum gefahren ist. Quietschende Reifen, splitterndes Glas und eine Autohupe im Dauerton kündigen ihn an. Der sich zu Sphärenklängen öffnende Aufzug spuckt Julien direkt in die Empfangshalle des Alptraumhotels. Mit ihrem schlichten Dekor erinnert sie an eine Weltraumlounge aus Science-Fiction-Filmen der 60er Jahre.

Weiß und Grau dominieren den von Vinzenz Gertler geschaffenen Bühnenraum. Strenge florale Muster an Wänden und auf Lampenschirmen und ein besonders hell strahlendes Licht verleihen ihm den unterkühlten Charme eines Ortes, an dem alles unwirklich erscheint. "So eine Örtlichkeit kann es gar nicht geben", sagt Präsident Delbec. "Sie wird nirgendwo erwähnt." Gerade deshalb ist sie der richtige Ort, um Fragen zu stellen: nach dem Sinn des Lebens, nach getroffenen Entscheidungen, versäumten Gelegenheiten und nicht realisierten Wunschträumen.

Erfolgsautor Eric-Emmanuel Schmitt ("Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran") ist als Sinnsucher bekannt. In dieser metaphysischen Komödie, 1999 uraufgeführt, thematisiert er die Grenzerfahrungen des Nahtods mit Melancholie, Ironie und pointierten Dialogen.

Mit leichter Hand

Lars Helmer war die "Hotel"-Inszenierung seit vielen Jahren eine Herzensangelegenheit. Der Zuschauer spürt das in jedem Augenblick dieses spannenden Theaterabends. Der Regisseur wirft den Stoff mit derart leichter Hand auf die Bühne, dass dem Spiel mit Angst und Unsicherheit, dem Pendeln der Komapatienten zwischen Hoffnung und Resignation alle Schwere genommen wird. Zwischen den Welten darf getanzt werden, es wird geküsst und geliebt, Menschen lesen Zeitungen, wenngleich alte, lachen über Witze, weinen über verstorbene Kinder und schimpfen über missratene Söhne. "Der Tod ist weder eine Strafe noch eine Belohnung", sagt der geheimnisvolle Dr. S, der den Kontakt zur Erde hält und auf seinem Laptop Nachricht bekommt, wer als nächstes in den Fahrstuhl steigen muss.

Bettina Schönenberg gibt den Torwächter als kühle Oberärztin. Wie sie in die selbst verordnete Distanz zu den Hotelgästen einen Hauch von Mitgefühl – oder ist es gar Mitleid – hineinspielt, hat Klasse. Die philosophischen Weisheiten, mit denen sie "Gäste" und Publikum versorgt, stimmen nachdenklich: "Egal, ob man mit 13, 50 oder 100 stirbt, es ist immer das gleiche Leben, das man verliert."

Schmitt spielt mit Ängsten und Befindlichkeiten, er macht sich lustig über die Sorgen und Nöte der Menschen, deckt auf, wie nichtig sie sind. Wenn sich der aufgeblasene Präsident Delbec (großartig gespielt von Wilfried Szubries) im Angesicht des Todes über fallende Aktienkurse sorgt, ist das witzig. Der Autor verletzt nicht, er hält den Spiegel vor.

Lars Helmer setzt das in seiner Inszenierung mit Situationskomik, Wortwitz und geschliffenen Dialogen auf so charmante, kluge und humorvolle Weise um, dass es irritiert und zugleich bestens unterhält. Die schauspielerische Sensibilität der Akteure offenbart dabei ein ums andere Mal die Qualität dieses Stücks. Wenn der überragende Carsten Caniglia in seinem lächerlichen Magierkostüm verzweifelt fragt, ob auch Gott im Koma liege und wenige Minuten später seine Bereitschaft zu sterben zur Erde funkt, um Laura das für die Transplantation benötigte Herz zu schenken, dann ist das großes Theater. Wenn die zerbrechliche, von Stefanie Obermaier-Staltmeier mit ganz außergewöhnlicher Lebenslust ausgestattete Laura sich das Koma als Dauerzustand herbeisehnt, weil sie im Hotel ihre große Liebe gefunden hat, rührt und berührt das.

Für ein großes Finale sorgt Christian Furrer, der als draufgängerischer Nihilist durch die Liebe seine Todesangst besiegt und plötzlich versteht, was wirkliche Freiheit bedeutet. "Obwohl ich nichts weiß, habe ich jetzt keine Angst mehr", sagt er und steigt in den Fahrstuhl. Licht aus: den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Langer, kraftvoller Applaus für einen beglückenden Theaterabend, lauter Jubel für ein grandioses Ensemble.

(RP)
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