Dinslaken Klinik behandelt PC-Süchtige

Dinslaken · Die psychiatrische Fachklinik Sankt Camillus in Walsum hat einen eigenen Therapiezweig für Menschen gebildet, die sich im Internet verloren haben – beim Spielen, Chatten und in Foren.

walsum Eine falsche Annahme lautet: Computersucht befällt nur jugendliche PC-Spieler. Krankhafte Züge jedoch nimmt inzwischen auch das Verhalten von Männern ab 50 in Fachforen und Frauen ab 30 beim Chatten im Internet an. Diese Störungen wurden lange gar nicht als eigenständige Phänomene wahrgenommen. "Das ist auch jetzt noch ein sehr zu erforschendes Thema", sagt der Diplom-Psychologe Maximilian Müller (27). Die psychiatrische Fachklinik Sankt Camillus in Walsum hat bereits reagiert und bietet eine neue, spezielle Therapieform für Computersüchtige an. Sie ist die nächstgelegene Anlaufstelle für Betroffene aus Dinslaken, Voerde und Hünxe.

Spielen Die "Gamer" (Spieler) machen den größten Anteil an den PC-Süchtigen aus. Wobei die fesselnde Wirkung weniger von "Ballerspielen" ausgeht, als von Online-Rollenspielen wie "World of Warcraft". Betroffen sind insbesondere Männer im Alter von 18 bis 30 Jahre. "Die Spieler nehmen andere Identitäten an, die sich über Jahre weiterentwickeln, und tauchen kaum noch aus dieser Welt auf. Das führt so weit, dass die Grenze zur virtuellen Realität verschwimmt", sagt Psychologe Müller, der neuen Therapiebereich leitet, und nennt ein Beispiel: "Leute stehen vor Bäumen und denken: Wow, was für eine tolle Grafik."

Fachsimpeln Für Männer ab 50 sind Fachforen im Internet verlockend. Sie surfen exzessiv, suchen Informationen zu ihren Hobbys, bieten selber Hilfe zu vertrauten Themen an. Müller erläutert: "In Autoforen werden zum Beispiel Bilder von seltenen Modellen veröffentlicht. Männer suchen stundenlang nach den Autos, die im Forum gerade von Interesse sind, und genießen dann ihren Erfolg und den Beifall, den sie von den anderen Nutzern bekommen."

Chatten Mehr und mehr Frauen suchen erotische Flirts im Internet. Sie sind meist mittleren Alters, das Problem wird aber auch schon bei 30-Jährigen beobachtet. Ihr elektronisches Alter Ego ist jünger, attraktiver, besser gebaut. Müller sind Fälle bekannt, in denen es zu realen Treffen zwischen Flirtpartnern kam – mit der zu erwartenden Enttäuschung. Nach solchen Rückschlägen stürzen sich Frauen umso tiefer in die Isolation der Computer-Kommunikation (Chat).

PC-Süchtigen in allen drei Gruppen sind dieselben Mängel gemein: zu wenig Liebe, zu wenig Anerkennung, geringes Selbstwertgefühl, fehlende Erfolge im privaten und beruflichen Leben. Im Internet lernen sie zum Ausgleich eine freundlichere, ungefährlichere Welt kennen. Die Anonymität birgt geringere Risiken. Unangenehme Kontakte können mit einem Tastendruck beendet werden. Niederlagen im Spiel können durch Dauerpräsenz und Steuermechanismen in Erfolge verwandelt werden. "Man kann zum Beispiel ganze Identitäten, die andere über Jahre erfolgreich entwickelt haben, kaufen. Und neuerdings werden auch virtuelle Waffen für PC-Spiele angeboten für bis zu 1000 Euro, bezahlbar per Kreditkarte", sagt Suchtberater Müller.

In der Therapie hat er diese Erfahrung gemacht: "Die Leute kommen nicht von selber. Es sind Freunde, Partner oder Angehörige, die auf eine Behandlung drängen." In Einzel- und Gruppengesprächen müssen sich die Betroffenen zunächst öffnen, ihre Sucht eingestehen und schließlich Wege aus der Krankheit suchen. "Bei Alkohol kann man abstinent sein. Aber ohne Computer kann man kaum noch leben", sagt Müller. Deshalb entwickelt er verbindliche Pläne mit seinen Patienten, die gegebenenfalls in Verträge münden: Was ist verboten, was ist erlaubt, was ist nur stark eingeschränkt zulässig?

Statistiker gehen Müller zufolge von bis zu 600 000 PC-Süchtigen in Deutschland aus. An der Camillus-Klinik haben sich bisher gerade genug Betroffene für eine Gesprächsrunde von "Gamern" gemeldet. Der Diplom-Psychologe sagt: "Die Tendenz ist schon jetzt steigend. Aber viele erreichen wir nicht, weil sie so isoliert sind. Wir hoffen, dass sich unser neues Angebot herumspricht und mehr den Mut aufbringen, sich in Behandlung zu begeben."

(RP)
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