Interview: Annette Berger Hilfe für Dinslakens arme Kinder

Dinslaken · Die Koordinatorin des Netzwerks gegen Kinderarmut erklärt, was für betroffene Familien getan wird.

Heute findet in Lohberg eine weitere Fachtagung zum Thema Kinderarmut statt. Sie richtet sich an die Mitarbeiter in den Kindertagesstätten und des Offenen Ganztags und ist Teil der Aktivitäten des Netzwerkes gegen Kinderarmut, die Annette Berger von der Stadtverwaltung koordiniert.

Wann ist ein Kind arm?

Annette Berger Der Begriff bezieht sich auf das durchschnittliche Einkommen. Wenn das Einkommen einer Familie unter 50 Prozent dieses Einkommensdurchschnitts liegt, sprechen wir von Armut. Bei den Jugendlichen unter 18 Jahren, die besonders betroffen sind, fallen in Deutschland über 19 Prozent unter diese Definition. Frappierend daran ist, dass auf der einen Seite ein Wirtschaftswachstum vorhanden ist, auf der anderen Seite aber die Zahlen der von Armut betroffenen Familien ansteigen. Das heißt, das Wohlergehen der Familien ist vom Wirtschaftswachstum immer mehr abgekoppelt.

Kann man sagen, wie viele Kinder in Dinslaken betroffen sind?

Berger Wir haben insbesondere die Zahlen derjenigen erhoben, die von Transferleistungen abhängig sind. Es gibt allerdings auch noch die so genannten "working poor", also die Menschen, die trotz Arbeit gerade so über dem Existenzminimum liegen. Insgesamt haben im Kreis Wesel 16 278 Menschen in 2013 Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch erhalten. Der Dinslakener Sozialbericht weist aus, dass etwa jedes vierte Kind in einer finanzschwachen Familien lebt. Wenn man sich die Verteilung auf die einzelnen Stadtteile ansieht, zeigt sich, dass insbesondere Lohberg, die Innenstadt und das Blumenviertel betroffen sind. Und wir stellen fest, dass bestimmte Gruppen besonders betroffen sind. Das sind Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende.

Wie äußert sich Kinderarmut?

Berger Einmal äußert sie sich natürlich in rein materieller Hinsicht, also zum Beispiel an der Kleidung, die die Kinder tragen. Aber auch im Bereich Gesundheit. Armen Kindern stehen in der Regel nicht so gesunde Nahrungsmittel zur Verfügung - und auch weniger. Die Kinder kommen einfach hungrig zur Schule. Und die Armut zeigt sich im Bereich der so genannten Teilhabe. Familien, die von Armut betroffen sind, leben ohnehin zurückgezogener als andere. Obendrein sind sie wegen ihrer geringen finanziellen Möglichkeiten von bestimmten gesellschaftlichen Aktivitäten einfach ausgeschlossen. Sie können nicht so häufig ins Kino gehen, die Kinder können nicht gleichzeitig Mitglied in mehreren Vereinen sein und, und, und.

Was tut die Stadt, um armen Kindern zu helfen?

Berger Es gibt da eine ganze Reihe von Möglichkeiten - wie zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket. Im Rahmen des Förderprogramms "Teilhabe ermöglichen - kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut", an dem Dinslaken seit 2012 teilnimmt, versuchen wir ganz intensiv die Informationen über diese unterschiedlichen Angebote an die Familien weiterzugeben. Es gibt eine große Angebotsvielfalt - beispielsweise bei den Wohlfahrtsverbänden. Was ein bisschen gefehlt hat, war, dass alle auch von den Angeboten der anderen wissen. Wir haben im Rahmen des Förderprogramms eine Projektgruppe gebildet, in der alle Wohlfahrtsverbände und wir als Verwaltung vertreten sind. Da geht es darum, Informationen auszutauschen und sicherzustellen, dass alle, bei denen betroffene Familien auftauchen, wissen, welche Leistungen es gibt und wie die Familien sie beantragen können. In dieser Hinsicht haben wir in Dinslaken schon sehr viel erreicht. Wir haben seit 2012 eine Erhöhung der Inanspruchnahmequote von 47 auf über 80 Prozent. In der Projektgruppe ist auch die Idee zu diesen Fortbildungen entstanden.

Es geht in diesen Fachtagungen also um ganz praktische Dinge.

Berger Ja, in der ersten Veranstaltung ging es beispielsweise um Informationen ganz allgemein zum Thema Kinderarmut. Wir hatten 80 Teilnehmer und aus deren Kreis ist der Wunsch entstanden, weitere Tagungen zu organisieren. Es ist beispielsweise deutlich geworden, wie schwierig es manchmal ist, an die Eltern heranzutreten, weil gerade die Eltern, die betroffen sind, besonders zurückgezogen leben. Viele schämen sich dafür, arm zu sein. Viele sind auch verschuldet, so dass es ihnen schwer fällt, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass Kinder an einem Essen teilnehmen. Dafür wird allerdings ein Eigenanteil von einem Euro pro Essen fällig. Manche Familien - gerade wenn sie mehrere Kinder haben -können aber diesen einen Euro pro Kind nicht aufbringen. Da passiert es dann, dass Familien mit der Zahlung des Eigenanteils in Verzug geraten. Die Erzieherinnen müssen das Geld aber eintreiben. Und das führt dann dazu, dass sich diese Familien noch mehr zurückziehen. So entstehen Spiralen, die dazu führen, dass die Familien, deren Kinder es dringend nötig hätten, noch weniger an solchen Angeboten teilnehmen.

Wie wichtig ist die Einstellung der Eltern?

Berger Ohne Mitwirkung der Eltern ist es ungemein schwierig, die Kinder aus der Armutssituation herauszubekommen. Die meisten Eltern sind ja auch sehr bemüht und wollen das Beste für ihre Kinder. Da müssen wir ansetzen. Wir haben - das finde ich ganz toll - bei der Fachtagung jetzt einen Vater zu Gast, der auf Grund widriger Umstände mit seiner Familie in die Armut gerutscht ist. Der hat sich nicht hängen lassen. Er bereitet Möbel vom Sperrmüll auf, benutzt die in seiner eigenen Wohnung und mittlerweile hat sich das rumgesprochen, so dass andere auch davon profitieren. Seine Frau wertet mit ihrer eigenen Handarbeit Altkleider auf. Die Familie kocht sehr viel ein. Sie macht eben aus den wenigen Dingen, die sie hat, das Beste. Dieser Vater berichtet bei der Fachtagung auch deswegen, weil er aus der Anonymität heraus will, weil er zeigen will, dass die betroffenen Menschen eben nicht selbst schuld sind an ihrer Situation und dass sie sich bemühen, da wieder herauszukommen. Das ist auch ein Ziel der Fachtagung. Die Teilnehmer sollen auch ein bisschen ihre eigene Haltung überprüfen, um zu erreichen, dass sie möglichst vorurteilsfrei auf die Eltern zugehen können.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE JÖRG WERNER

(RP)
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