Voerde Geschichten aus dem Voerder Alltag

Voerde · Michael Dahlmanns hat ein ebenso spannendes wie unterhaltsames Lesebuch mit vielen zum Teil unveröffentlichten Fotos geschrieben. Es macht Lust aufs Schmökern, Blättern und einen Geschichtsunterricht der ganz besonderen Art.

Wer Alltagsgeschichten aufschreiben will, muss gut zuhören können. So wie Michael Dahlmanns. Er hat mit vielen älteren Voerdern gesprochen, die ihm ihre Lebensgeschichte, ihre Erinnerungen und Fotos anvertraut haben. Daraus hat der Autor, der 1955 in Dinslaken geboren wurde, in Voerde aufgewachsen ist und heute in Geldern Geschichte und Deutsch unterrichtet, ein Zeitgemälde der Gemeinde von 1900 bis 1945 entworfen.

Dahlmanns stellt die Geschichten in den historischen Kontext und reichert sie mit zahlreichen bislang unveröffentlichten Bildern aus Privatbesitz an. Herausgekommen ist ein ebenso spannendes wie unterhaltsames Lesebuch, das Lust aufs Schmökern, Blättern und einen Geschichtsunterricht der ganz besonderen Art macht. Die "Voerder Alltagesgeschichte(n): 1900 - 1945" sind nun als Band 2 der Schriftenreihe der Lydia und Heinz Rühl Stiftung erschienen.

Damals — das war die Zeit, als Kinder buntes Knickerwasser aus der Brauseflasche tranken, der strenge Schulmeister ganz locker aus dem Handgelenk mit dem Rohrstock zuschlug, auf Weihnachtstellern pausbäckige Boskop-Äpfel lagen und die Mütter Endivien und Kappes untereinander aus dem großen Kochpott auftischten. Wer damals am Rhein wohnte, der erinnert sich an das unermüdliche Tuckern der Schiffe, schreibt Michael Dahlmanns. Sie kamen von weit her und brachten manchmal das Fernweh mit.

Warum die Menschen in Voerde auch ohne Loreley gern am platten Rheinufer gelebt haben, obwohl der Fluss mehrfach aus dem Bett zu steigen pflegte, widmet sich der Autor in einem sehr schön bebilderten Kapitel. Darin gibt es wahre Fotoschätze zu entdecken: Außen- und Innenaufnahmen vom Café-Restaurant Zur Arche aus dem Jahr 1937 oder von der 1925 eröffneten Gaststätte Strandhaus Ahr unweit der Dampfer-Anlegestelle.

Hier ein Blick auf das Storchennest, dort auf den Gasthof Ziegler (später Mölleken) oder die Eisschollen, die im Februar 1929 auf dem Rhein trieben und im Betrachter unwillkürlich die berühmten Wintergemälde von Caspar-David Friedrich wachrufen.

Allein die Fotos machen Lust auf dieses Buch. Das gilt auch für die Bilder aus den nachfolgenden Kapiteln, in denen der Leser 1940 Bernd Breymann mit Hundewelpen begegnet, 1939 einem i-Dötzchen mit Zöpfen und 1938 Rollschuh laufenden Mädchen vor dem Lebensmittelgeschäft Witte. "Kindheit auf dem platten Land bedeutet auch ein beträchtliches Maß an Freiheit und Ungezwungenheit", schreibt Dahlmanns. Die meisten Eltern waren so stark beschäftigt und eingespannt, dass sie sich nicht ständig um den Nachwuchs kümmern konnten. Das ändert sich mit den Nazis, die Dienstpflichtgesetze für Kinder und Jugendliche erließen, womit die Freiheit weitgehend endete. Gespielt wurde trotzdem. Und wie: phantasiereich vor allem. "Man nahm, was draußen da war", lässt der Autor eine Zeitzeugin berichten. "Alte Töpfe, Sand, Erde, Pfützen."

Michael Dahlmanns erzählt über den ländlichen Haushalt mit dem qualmenden Ofen, das samstägliche Bad in der Zinkwanne, das Plumpsklo auf dem Hof, die Arbeit auf dem Feld, Feste, Feiertage und anderes Vergnügen, Glaube und Aberglaube, über das Lied "Maikäfer flieg" und "den Dauerzustand von Krisen und Kriegen" und wie er sich in Zeitungs- und Zeitschriftenwerbung widerspiegelte. Letzteres wirkt heute himmelschreiend komisch. Da verkündet eine Anzeige in der Nationalzeitung, dass die Damenbindenproduktion auch im fünften Kriegsjahr gesichert ist. Die Bevölkerung wird zum Verzicht von Schmelzkäse aufgerufen, weil die Soldaten an der Front das Zeug zum Siegen brauchen. Und Mutti verwöhnt Vati auf Fronturlaub mit dem leckeren "Mändelchen"-Pudding.

Als kleines Schmankerl hat Michael Dahlmanns auch ein Kapitel über den Ort geschrieben, auf dem des Voerders Herz schlägt: die Zunge. Die Betrachtungen über das "hiesige Sprachverhalten" beleuchtet Dialekt und Regiolekt. Dort fließt die Mommbäck und die Lepp, und die Türkei liegt plötzlich mitten in Mehrum. Wer's nicht glaubt, der soll — so der Autor — bloß nicht "rumstänkern". Er kann es nachlesen. Auf 175 vergnüglichen und sehr informativen Seiten.

Preis: 14,50 Euro, erhältlich unter anderem in der Buchhandlung Korn und Lesezeit.

(RP)
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