Dinslaken Die Faszination des Wortes

Dinslaken · Am Freitag inszenierte Anna Scherer "Tintenherz" für die Burghofbühne nach dem Roman von Cornelia Funke. Eine Geschichte für Kinder ohne Altersbeschränkung nach oben.

Es ist spannend und fantastisch, auf einer tieferen Ebene auch philosophisch. Vor allem aber ist es eine Liebeserklärung ans Erzählen. An das Buch, das nicht stumm bleibt, nicht gehortet oder unter der Bettdecke gelesen wird, sondern an das geschriebene Wort, das in dem Moment zu leben beginnt, in dem es laut gesprochen wird. Das ist die Botschaft von Cornelia Funkes "Tintenherz".

Am Freitag schlug die Burghofbühne die Seiten dieses Zauberbuches auf. In großer Besetzung, jenseits der Spartenschranken von Kindertheater und Abendspielplan und im zauberhaftesten Bühnenbild der Dinslakener seit Jahren. Die Premiere, ausnahmsweise in der Aula des Otto-Hahn-Gymnasiums, war lange im Vorfeld ausverkauft und das Publikum sollte das spielfreudige Ensemble so oft auf die Bühne zurückrufen, dass der Schlussapplaus selbst zu einer schier unendlichen Geschichte geriet.

Poetisch ist die Idee, jedem "Kapitel" des Bühnenstückes Zitate von Celan, Tolkien, Kipling oder Ende voranzustellen. Die Geschichte von "Tintenherz" selbst ist schnell erzählt. Der Buchbinder Mo hat die unkontrollierbare Gabe, durch Vorlesen Buchfiguren in die Realität und Menschen in eine Geschichte zu lesen. So zauberte er gegen seinen Willen seine Frau in den Fantasyroman "Tintenherz" und holte nicht nur den Gaukler Staubfinger, sondern auch den Voldemort-gleichen Schurken Capricorn und dessen Handlanger in die reale Welt. Seitdem ist er mit seiner Tochter Meggie auf der Flucht, wird verraten und an Capricorn ausgeliefert: Doch Fenoglio, dem Autor von "Tintenherz", gelingt es, das Schlusskapitel umzuschreiben. Meggie, die bei sich die Gabe ihres Vaters entdeckt, liest das Happy End herbei.

Doch bis zu diesem erlebten Zuschauer aller Altersklassen eineinhalb Stunden, in denen nichts fehlte, was Theater seit Hunderten von Jahren ausmacht. Gerd Kappelhoffs Musik war atmosphärisch wie ein Soundtrack. Harry Behlau (Bühne und Kostüme) stellte als einzige Kulissen einen meterhohen Stapel alter, goldüberladener Bücher vor einem beleuchteten Sternenhimmel, die Schauspieler agierten darauf auf mehreren Ebenen.

Buntes Licht und Rauch sorgten für den nötigen Theaterzauber, ebenso wie Capricorn, der im bodenlangen roten Ledermantel, der gehörnten Maske und der elektronisch verzerrten "Batman"-Stimme wie ein archaischer Leibhaftiger die Bühne dominierte. Staubfinger blieb optisch eine Buchfigur: sein Mantel war mit Zitaten aus "Tintenherz" übersät: Ein beschriebenes Blatt. Aber gilt dies nicht auch für Menschen?

"Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler. / Sie treten auf und geben wieder ab. / in Leben lang spielt einer manche Rollen / Durch sieben Akte hin" heißt es bei Shakespeare in der Schlegel-Übersetzung. Sind wir nicht selbst Akteure in unserer eigenen Geschichte? Würden wir das Ende vorab lesen wollen? Und können wir die Handlung beeinflussen? Das sind die Fragen, die in "Tintenherz" gestellt werden.

Staubfinger (Dirk Hermann), von Regisseurin Anna Scherer zum Erzähler der Geschichte erkoren, treffen diese Fragen am offensichtlichsten. Würde sein Wunsch, in sein Buch zurückzukehren, wahr, bedeutete dies seinen Tod. Aber auch Mo (Arno Kempf), Meggie (Marie Förster) und Tante Elinor (eine herrliche Christiane Wilke, die auch Mos Frau spielte), die Bücher als ihre "Kinder" bezeichnet, bis sie Meggie zu lieben lernt, machen eine Entwicklung durch, müssen ihren Platz in ihrer eigenen Geschichte erst finden.

Dass bei diesem Mix aus Fantasy-Horror und existenziellen Fragen auch der Humor nicht zu kurz kommt, dafür sorgen Julia Sylvester als Plappermaul "Farid" und Capricorn-Darsteller Marcus Penne als schrulliger "Fenoglio". Das alles macht aus "Tintenherz" in der Bühnenfassung von Robert Koall ein wahrhaft vielseitiges Stück.

(RP)
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