Dinslaken „Die Beißhemmung ist weg“

Dinslaken · Polizeichef Norbert Henrichs sagte es drastisch: Schwere Körperverletzung bedeute „Arm ab oder Auge aus“. Fälle solcher Rohheit haben im Kreis Wesel überdurchschnittlich stark zugenommen. In Dinslaken gab’s 2006 zwei Morde.

Kreis Wesel 2006 registrierte die Polizei unter der Überschrift „Gewaltkriminalität“ 1464 Fälle – 8,9 Prozent mehr als 2005. Zum Vergleich: Landesweit betrug die Zunahme 2,3 Prozent. In den vergangenen zehn Jahren habe die Gewaltbereitschaft deutlich zugenommen, so die Polizei. 1996 wurden nur 763 Delikte angezeigt. „Die Beißhemmung ist weg“, so Henrichs. Dafür gebe es ein Bündel von Ursachen, sagte Landrat Dr. Ansgar Müller als ziviler Chef der Behörde. Dazu zählte er einen Mangel an Respekt und Achtung ebenso wie den Einfluss des Fernsehens: Wenn Dieter Bohlen in der Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ junge Kandidaten niedermache, sei das „verbale Gewalt“, so Müller.

Dunkelfeld häusliche Gewalt

Fast 2000 Misshandlungen und Verletzungen wurden im Vorjahr angezeigt. Gefährliche und schwere Körperverletzungen stiegen seit 2002 um 27,4 Prozent. Im Vorjahr machten unter 21-Jährige fast 50 Prozent der Tatverdächtigen aus. Die Polizei geht davon aus, dass ihr häusliche Gewalt zu 93 Prozent nicht bekannt gemacht wird – „bedrückend“, so Müller. Scham, Angst, fehlendes Rechtsbewusstsein und mangelndes Vertrauen in Polizei und Justiz werden u. a. als Gründe für dieses Phänomen angegeben. Auch die drei Morde (zwei in Dinslaken, einer in Moers) und den Totschlag (Kamp-Lintfort), die es 2006 gab, ordnet die Polizei dem weiten Feld „Beziehungstaten“ zu. In Dinslaken hatte im Juni ein 60-jähriger Mann seine Ehefrau im Bett erwürgt. Motiv: der „Ordnungswahn“ der Gattin. Die zweite Bluttat ereignete sich in November in Hiesfeld. Hier erschlug ein Mann seine Frau und erhängte sich anschließend. Es gebe „hohen Anlass“, sich der häuslichen Gewalt intensiv zu widmen, sagte Müller. Das geschieht: Die Kreispolizei gehört zu landesweit fünf Pilotbehörden, in denen ein Frühwarnsystem installiert werden soll. Ziel: mit wissenschaftlicher Begleitung das Gefährdungspotenzial in auffälligen Familien zu untersuchen und dem Täter die Konsequenzen seines Tuns aufzuzeigen. In einem Prozent der Fälle reicht es laut Polizei nicht, den Gewalttäter für ein paar Tage aus der Wohnung zu weisen. Hier müssten andere Maßnahmen her, um Entführungen oder Tötungen zu vermeiden.

(RP)
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