Buchkolumne Freud und der „Fall Dora“

Der „Fall Dora“ war die erste ausführlich dokumentierte, 1906 veröffentlichte Krankengeschichte des jungen Wiener Nervenarztes Dr. Sigmund Freud.

Die Symptome waren Migräne, nervöser Husten und Stimmlosigkeit, die Diagnose: Hysterie. Im Mittelpunkt von Freuds Analyse der 18jährigen „Dora“ stand der hartnäckige Versuch eines Freundes von Doras Vaters, sie im zarten Alter von 13 Jahren zu verführen.

„Ida“, das Romandebüt Katharina Adlers, der Urenkelin von „Dora“, die in Wahrheit Ida Adler hieß, erzählt die „wirkliche“ Lebensgeschichte Idas und stellt sie der Fallbeschreibung Freuds gegenüber. Der Leser lernt Ida Adler als attraktive und eigenwillige junge Frau aus wohlhabender jüdischer Familie kennen, die im Wien der Jahrhundertwende ihren eigenen Weg zu gehen versucht und dabei immer wieder mit den Rollenanforderungen ihrer Zeit in Konflikt gerät.

Als sie von ihrem Vater wegen ihrer gesundheitlichen Probleme gezwungen wird, sich von dem jungen Dr. Freud sechsmal in der Woche therapieren zu lassen, bricht sie nach elf Wochen die Therapie-Sitzungen eigenmächtig und gegen das Votum Sigmunds Freuds ab.

Katharina Adler zeichnet in ihrem von der Kritik sehr positiv aufgenommenen Romandebüt aber nicht nur ein Porträt ihrer Urgroßmutter als junger Frau, sondern erzählt deren ganze Lebensgeschichte und die Geschichte ihrer Familie über drei Generationen hinweg. Und sie verbindet dabei in überzeugender Weise die Familienschicksale mit der österreichisch-deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Glänzend gelungen sind im Roman die szenischen Schilderungen der Therapiestunden bei Freud, in denen sich die 18jährige Ida vehement gegen die autoritären (Über-)Interpretationen des Nervenarztes wehrt.

Und gelungen ist auch die enge Verflechtung von Zeitgeist und individuellem Handeln der Figuren. Der gut lesbare Frauen- und Familienroman, der sich gleichzeitig als kritische Fallstudie zum Menschen- und Frauenbild der klassischen Psychoanalyse lesen lässt, kann RP-Lesern mit Nachdruck empfohlen werden.

Katharina Adler: Ida. Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.

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