Nettetal Sankt Martin reitet durch schwere Zeiten

Nettetal · Zu viele Umzüge, zu scharfe Auflagen, zu wenig Nachwuchs: Die Martinsvereine in der Region erhalten die Tradition des Umzugs in den Tagen um den 11. November nur mit Mühe aufrecht. In manchen Kindergärten feiern die Kleinen inzwischen nur noch ein "Lichterfest".

Den Martinstag hatte sich Rainer Neveling eigentlich so vorgestellt: Einen schönen Laternenumzug durch die Nachbarschaft sollte es geben. Vorneweg Sankt Martin auf dem Pferd, dahinter die Musikkapelle – so wie in den vergangenen 30 Jahren auch. Stattdessen wird seine Straßengemeinschaft "De Flothenger" aus Nettetal zum ersten Mal keinen Umzug mehr auf die Beine stellen. "Es kostet zu viel und bringt zu wenig", sagt Neveling. Das Pferd muss versichert sein, Schauspieler und Musiker wollen bezahlt werden. "Und das alles für 14 Kinder, die noch hier wohnen", sagt Neveling. Es klingt ein wenig nach dem alten Klagelied, dass das Brauchtum langsam ausstirbt.

Doch so weit ist es noch lange nicht. Selbst in Nettetal gibt es in diesem Jahr 18 Umzüge, im benachbarten Viersen sind es rund 60, in Düsseldorf sogar 130. Gemeinde, Schule, Kindergarten – jeder organisiert sein eigenes Martinsfest. Und genau das sei das Problem, sagt Neveling: "Die Leute sind übersättigt." Eltern mit mehreren Kindern sind regelrecht im Umzugsstress und seltener bereit, sich für mehrere Züge gleichzeitig zu engagieren.

Die wachsende Zahl der Züge stellt auch die Städte vor eine Herausforderung. Oft sind Polizisten und Feuerwehrleute zur Absicherung im Einsatz. Je mehr Umzüge es werden, desto mehr Personal muss abgestellt werden. Natürlich könnten beispielsweise Vereine ihre Züge auch zusammenlegen. "Aber da gibt es lokal auch Rivalitäten. Das ist gar nicht so einfach", sagt Neveling.

Doch das Brauchtum hat noch ein ganz anderes Problem: Es erstickt scheinbar in Bürokratie. Eitel Gründer hat deshalb wochenlang um seinen Zug gebangt. Im Sommer erhielt der Präsident des St. Martins-Vereins Viersen-Noppdorf ein Schreiben der Stadt. Darin stand, wie er seinen Zug künftig abzusichern habe. "Das waren völlig andere Auflagen, als uns der Kreis Viersen gemacht hat", sagt er.

Pro 25 Teilnehmer am Zug müsse ein Ordner am Wegesrand stehen, ausgestattet mit leuchtender Warnweste und Taschenlampe. Er dürfe durch die Teilnehmer nicht verdeckt werden und müsse außerdem aufpassen, dass niemand mit seiner Laterne auf die Straße rennt. Halten die Organisatoren die Regeln nicht ein und passiert etwas, greift ihre Haftpflichtversicherung nicht.

"Auflagen gab es immer", sagt Gründer. "Aber das war wirklich kaum zu stemmen." Von den 25 Mitgliedern seines Vereins seien viele so alt, dass sie beim Zug nicht mehr mitlaufen können. Sie überredeten Freunde und Bekannte, um die 30 nötigen Helfer zusammenzubekommen, und retteten so ihren Zug. Ein anderer Verein sagte den Umzug gleich ab. Im kommenden Jahr wollen sich die Viersener Martinsvereine zusammensetzen, um mit der Stadt neue Auflagen auszuhandeln. "So kann es jedenfalls nicht weitergehen", sagt Gründer.

Dass Martinszüge durch so viel Regelwut ihre Faszination verlieren könnten, glaubt Bettina Küppers-Ernst nicht. Zumindest der Job hoch zu Pferd sei heiß begehrt, sagt die Vorsitzende des St. Martins-Komitees in Straelen. Doch seit 40 Jahren sitzt dort nur einer im Sattel: Matthias Pasch. Der 71-Jährige ist als Sankt Martin so beliebt, dass der Verein ihn nicht auswechseln möchte – und auch er hat keine Lust, vom Pferd zu steigen. So viel Engagement wünscht sich die Vorsitzende auch für andere Arbeiten im Verein. "Es ist schwer, Ehrenamtliche zu finden, die von Haus zu Haus ziehen, um Spenden für die Martinstüten zu sammeln, oder den Zug als Ordner abzusichern."

Das Komitee habe zwar genügend Nachwuchs für die Arbeit – trotzdem sorgt sie sich um die Zukunft. Denn viele Kinder, die im Zug mitliefen, kannten die Geschichte von Sankt Martin nicht oder alberten nur herum, sagt sie. "Wenn Eltern oder Lehrer ihnen aber nicht erzählen, weshalb wir diesen Tag feiern, ist das auch kein Wunder." Längst nicht in jeder Schule würden Laternen gebastelt, nicht jeder Kindergarten greife die Geschichte auf. "Wie sollen sie sich so interessieren?", fragt Küppers-Ernst. Schließlich gibt es neben der christlichen Tradition auch moderner wirkende Feste wie etwa Halloween.

In der Mönchengladbacher Kindertagesstätte "Schatzinsel" beispielsweise, die von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) getragen wird, gibt es Sankt Martin offiziell schon gar nicht mehr. Die Kinder sollen stattdessen ein "Lichterfest" feiern, eine Art überkonfessionellen Konsens. Weil viele der Kinder einen Migrationshintergrund hätten, müsse man das Angebot ändern, so AWO-Geschäftsführer Uwe Bohlen. Das Fest feiere man trotzdem, aber unter anderem Namen und ohne Mantelteilung, Pferd oder Martinslieder. Im Bistum Münster hält man davon nichts. "Wenn man Brauchtum hat, sollte man es lebendig halten. So aber verwässert man die Tradition nur", sagt ein Sprecher.

Die Nettetaler Straßengemeinschaft hat sich nach langen Diskussionen für eine Sparvariante des Martinsfests entschieden. Rainer Neveling sieht das positiv. Nach dem Zug seien die meisten Teilnehmer in den Vorjahren gegangen, nur wenige blieben auf einen Glühwein. Nun soll die Nachbarschaft bei Gulaschsuppe und Weckmännern zusammensitzen. Für die Kinder wird es Tüten geben, die natürlich Sankt Martin bringt – nur eben nicht auf dem Pferd. Besteht Interesse? "Aber ja", sagt Neveling. "Bisher haben wir 90 Anmeldungen."

(RP)
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