Crashkurs in Düsseldorf Flüchtlinge lernen "Deutschland"

Düsseldorf · Manchmal hängt Integration an ganz banalen Dingen: Wie liest man einen Fahrplan? Wie geht das mit dem Obstwiegen im Supermarkt? Im Seminar eines privaten Bildungsträgers lernen Flüchtlinge, wie der Alltag in Deutschland funktioniert - auch der Umgang mit Frauen ist dabei ein Thema.

Crashkurs im Einkaufen und Ticketziehen für Flüchtlinge
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Foto: Endermann, Andreas

Nazeer Sharifi ist ein praktischer Mensch. Wenn er etwas Neues lernt, dann wird es geübt, bis es sitzt. Gerade eben hat man ihm erklärt, wie die Fotoboxen am Hauptbahnhof funktionieren, da springt er gleich selbst als Retter in der Not ein: Zwei Frauen mit Kopftuch studieren die Anleitung in einer der Kabinen, da fragt sie der 23-jährige Flüchtling auf Arabisch, ob er helfen kann. Kann er.

Denn für viele Flüchtlinge und Migranten ist Deutschland bei ihrer Ankunft ein rätselhafter Ort. Sie kennen das deutsche Alphabet nicht, manche können nicht lesen und schreiben. Umso wichtiger, dass sie nicht nur die Sprache lernen, sondern auch, wie man ein Bahnticket kauft, wie man Fahrpläne liest, was die Schilder im Supermarkt bedeuten und welche Gesetze und Umgangsformen in Deutschland gelten.

Sharifi ist Schüler in einer Institution, in der all das auf dem Stundenplan steht. In der Bildungseinrichtung Ludwig Fresenius Schulen in Düsseldorf-Bilk werden eigentlich Ergo- und Physiotherapeuten ausgebildet. Doch wenn in den Ämtern und in Einrichtungen wie Awo oder Caritas alle Kurse für Flüchtlinge voll sind, kommen auch private Träger wie diese zum Zuge. Neben Informationsveranstaltungen für Arbeitssuchende gibt es seit Kurzem auch die Sprach- und Integrationskurse für Flüchtlinge. 13 Wochen lang nehmen diese am Unterricht teil. "Sie lernen hier auch etwas über Verhaltensregeln, Rechtsgrundlagen, das Frauenbild in Deutschland und über unsere Streitkultur", sagt Projektmitarbeiter Florian Stock.

Wie wichtig nicht nur das Erlernen der Sprache, sondern auch das Wissen über Umgangsformen in Deutschland ist, wird seit der Silvesternacht von Köln in ganz Deutschland diskutiert. "Bei uns war das zwar noch kein Thema", sagt Stock, "aber wir überlegen bereits, wie wir vor Karneval mit den Flüchtlingen über den richtigen Umgang mit Frauen sprechen." Man sei darum bemüht, dabei nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle jemanden bevormunden oder habe Vorurteile.

Bei ihrem Ausflug zum Hauptbahnhof beweisen die Schüler der Einrichtung, dass sie den respektvollen Umgang miteinander nicht erst lernen müssen. In der Straßenbahn räumen Nazeer Sharifi und Naweed Etemadi (24) ihre Plätze für zwei Frauen. Beide Männer kommen aus Afghanistan und haben eigentlich kein Recht auf einen Seminarplatz an der Bildungseinrichtung. "Voraussetzung für die Teilnehmer ist, dass sie aus Syrien, Eritrea, dem Iran oder dem Irak kommen und eine Aufenthaltsgestattung oder eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender haben", sagt Florian Stock. Nur dann bekommt die Schule die Kosten erstattet. "Wir schicken aber in der Regel niemanden weg. Es ist einfach schwierig, zu erklären, warum der eine teilnehmen darf und der andere nicht."

Fünfmal die Woche kommen die Flüchtlinge für täglich vier Stunden zum Lernen nach Bilk. Es gibt zwei Kurse mit maximal 25 Teilnehmern, die unterschiedlich gut ausgebildet sind. Einige sind Analphabeten, andere sprechen gleich mehrere Sprachen, nur eben kein Deutsch. Bei den Exkursionen sollen die Schüler auch selbstbewusster werden. "Die meisten sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland", sagt Stock. Sie melden sich über ihre Koordinatoren in den Flüchtlingsunterkünften zu den Kursen an.

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Mit der Bahn geht es an diesem Tag zum Hauptbahnhof. Dort erklärt Dolmetscher Riad Mousa verschiedene Schilder. "Jetzt verstehe ich auch, wie sich die gelben und die weißen Aushänge unterscheiden — der eine ist für die Abfahrt, der andere für die Ankunft", sagt Nahed Najem (42). Eine arabische Übersetzung finden sie am Hauptbahnhof nicht. Nur wenige Kursteilnehmer wie Naweed Etemadi sprechen Englisch und können sich im Notfall verständigen und um Hilfe bitten.

Es sind Kleinigkeiten, die den Flüchtlingen den Alltag erschweren. "Ich habe nie verstanden, ob die Obstpreise im Supermarkt für das Kilo oder das Stück Obst ausgezeichnet sind", sagt eine Kursteilnehmerin. Auch für Hanin Moustfa sind die praktischen Übung eine große Hilfe. Die 26-Jährige ist mit ihren beiden Kindern aus Syrien nach Deutschland gekommen und hier auf sich allein gestellt. Die Flut von Informationen, der sie hier ausgesetzt ist, sei alleine kaum zu bewältigen. "Es gibt Einrichtungen, die kann man nicht einmal ins Arabische übersetzen, weil es Ämter wie das Jugendamt oder Gelder wie Kindergeld in ihrer Heimat gar nicht gibt", sagt Stock.

Dass bei der Integration von Flüchtlingen auch die Hilfe der Einheimischen gefragt ist, wird beim Obstkauf im marokkanischen Viertel an der Ellerstraße hinterm Hauptbahnhof deutlich. "Sind das Marokkaner?", fragt ein Mann, als er die Gruppe mit drei Frauen und acht Männern sieht. "Wir haben hier nämlich ein großes Problem mit denen." Erst am Wochenende hatte die Polizei in der Gegend eine Razzia durchgeführt und 40 Personen verhaftet. Das Viertel gilt als Rückzugszone krimineller Banden aus Nordafrika. "Wir sind hier, um zu lernen, wie Deutschland funktioniert", rechtfertigt sich die Gruppe — wohl nicht zum letzten Mal. Dafür aber in immer besserem Deutsch.

(jnar / lkö)
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