Wuppertalerin verlor Arm bei Unfall Als „einarmige Prinzessin“ zurück im Leben

Wuppertal · Vor zwei Jahren verliert Gina Rühl durch einen schweren Unfall ihren linken Arm. Die Studentin aus Wuppertal ist daran nicht verzweifelt, sondern zeigt sich. Auch, weil sie anderen Mut machen will.

 „Selbstbewusster als früher“: Gina Rühl mit ihrer Armprothese.

„Selbstbewusster als früher“: Gina Rühl mit ihrer Armprothese.

Foto: Anne Orthen (orth)/Anne Orthen (ort)

Es gibt sie schon manchmal, die Tage, an denen Gina Rühl sich fragt, warum sie damals nicht einfach ins Schwimmbad gegangen sind. An dem schönen Septembertag vor zwei Jahren entschied sie sich mit ihrem Freund Jan aber dagegen. Sie machten stattdessen mit seinem Motorrad eine Tour ins Bergische. „Ich hatte an dem Tag erst gelernt, weil zwei Tage später meine mündlichen Abi-Prüfungen sein sollten“, erzählt die 22-Jährige. Sie weiß noch, wie warm und sonnig es war an jenem Sonntag.

In einer Linksschleife legten sie sich in die Kurve, als das Hinterrad plötzlich schlackerte. „Man ist mit den Beinen immer nah am Boden, aber da war etwas anders, es war zu nah“, sagt sie. Sie stürzten, Gina Rühl wurde von ihrem Freund weggerissen, schleuderte über den Asphalt, bemerkte noch, wie die Funken sprühten. „Ich rutschte einen Abhang runter und knallte gegen einen Baum.“ In ihrem Kopf war alles klar. Sie hatte Angst um ihrem Freund, hörte ihn irgendwo schwer atmen, wie bewusstlos. Aber sie konnte sich nicht mehr bewegen, lag mit dem Gesicht nach unten am Baum. Doch erst als der Notarzt einen Helikopter anforderte, ahnte sie: „Ich habe wohl nicht nur einen Knochen gebrochen.“ Die Rettungskräfte drehten sie um, und nun spürte sie die Schmerzen ihrer schweren Verletzungen. „Ich habe nur noch geschrien, sie sollen mir Schmerzmittel geben“, sagt sie. „Und dann war ich weg.“

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Gina Rühls Becken war beidseitig gebrochen, ihr rechter Unterschenkel komplett zertrümmert. Doch am schlimmsten war ihr linker Arm verletzt. In der Kölner Uniklinik wurde sie für zwei Tage ins künstliche Koma gelegt. In vielen Operationen versuchten die Ärzte, den Arm zu retten. Vergeblich. Gina Rühl wusste sofort, was es bedeutete, als ihre Eltern nach zwei Wochen weinend an ihr Bett kamen. Sie würde ihren Arm verlieren. „Einer meiner ersten Gedanken war: Wenn ich nur noch einen Arm habe, wie soll ich dann später ein Kind tragen können?“

Inzwischen hat sie eine 100.000 Euro teure High-Tech-Armprothese, die sie mit ihrer Brust- und Rückenmuskulatur steuern kann. „Da der ganze Arm amputiert werden musste, ist es nicht so einfach“, sagt sie. Sie kann nicht einzelne Finger der Prothese bewegen, aber sie kann ein Glas oder eine Flasche damit greifen. Gina Rühl hat ihre Abiturprüfungen nachgeholt und studiert Customer Experience Management an einer Fernuniversität. Ihren alten Kellnerjob kann sie nicht mehr machen, doch sie hat etwas Neues gefunden: Als „Einarmige Prinzessin“ lässt sie auf Instagram fast 50.000 Abonnenten an ihrem Leben teilhaben. Sie zeigt in Videos, wie sie ihr neues Leben mit der Armprothese meistert, wie sie sich die Haare macht oder Auto fährt. Sie beantwortet die Fragen ihrer Follower, die etwa wissen wollen, ob Gina auch im Traum nur noch einen Arm hat, oder ob sie bei der Maniküre nur den halben Preis bezahlen muss (Antwort: ja). Gina Rühl ermutigt ihre Follower, sie alles zu fragen. „Ich finde es viel schlimmer, wenn Leute mich im Supermarkt mit offenem Mund anstarren und dann tuscheln“, sagt sie.

Über Instagram hat sie auch Kontakt geknüpft zu anderen Menschen mit Behinderungen. „Wir tauschen uns zum Beispiel über Phantomschmerzen aus, die es mir manchmal sehr schwer machen.“ Mittlerweile hat die Studentin einige Werbepartner, sie hat mit dem Deutschen Roten Kreuz und der Aktion Mensch zusammengearbeitet. „Ich will anderen Mut machen und ihnen zeigen: Was ich mit einem Arm schaffe, schaffst du auch“, sagt sie. Früher sei sie viel selbstkritischer gewesen und oft unsicher. „Es klingt seltsam, aber ich bin durch die Prothese selbstbewusster geworden.“ Und deshalb hat sie sich für die nächste „Miss Germany“-Wahl beworben und es unter die Top-160-Kandidatinnen geschafft. Das Motto ist „Diversität“, es zählen nicht mehr Modelmaße, die Frauen sollen echte Identifikationsfiguren sein. Abgestimmt wird per Online-Voting in Etappen. „Ich lasse es auf mich zukommen“, sagt Gina Rühl. „Ich würde so gern ins Model-Business, früher habe ich mich aber nicht getraut.“

Ginas Freund Jan hat bei dem Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Ein Sachverständigengutachten ergab, dass er nicht zu schnell gefahren ist. Das ist Gina Rühl wichtig, weil sie immer wieder erlebt hat, dass Leute schnell urteilen, wenn sie vom Motorradunfall erzählt. „Es war ein Unfall, ausgelöst durch irgendeinen Fahrfehler“, sagt sie. „Das hätte mir auch passieren können.“ Die beiden sind seit sechs Jahren zusammen, daran hat auch der Unfall nichts geändert.

Als Gina Rühl es nach drei Monaten nicht mehr ausgehalten hat in der Klinik, im Krankenzimmer und mit dem immergleichen Blick hoch an die weiße Decke, hat sie die Klinik auf eigene Verantwortung verlassen. Ihr Freund trug sie hoch in ihre Wohnung im dritten Stock, 58 Stufen. Wenn sie zum Arzt musste, trug er sie wieder runter. „Ich wünschte, ich hätte meinen Arm verloren und nicht du“, sagte er ihr. Gina Rühl musste weitere zwei Monate liegen. „Ich hatte überhaupt keine Muskeln mehr, war spindeldürr“, sagt sie. Es dauerte lange, bis ihr Lebensmut zurückkam. Wenn sie wieder schlimme Phantomschmerzen hat und ihre linke Hand spürt, die gar nicht mehr da ist, dann legt ihr Freund seinen Arm um sie, und sie hält seine linke Hand ganz fest. „Es ist komisch, aber das hilft“, sagt sie. „Es tut dann weniger weh.“

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