WDR-Doku zum Jahrestag „Hört uns zu!“ – Wie der Anschlag von Solingen immer noch nachwirkt
Solingen · Fünf Mädchen und Frauen kommen im Mai 1993 in Solingen durch einen rassistischen Mordanschlag ums Leben. 30 Jahre später erzählt der Regisseur Mirza Odabaşi in einer Dokumentation, was der Anschlag in der deutsch-türkischen Community verändert hat.
Eine der frühesten Erinnerungen des Regisseurs Mirza Odabaşi ist der Tag, an dem er als Fünfjähriger den Wimpel seines Lieblingsfußball-Clubs „Galatasaray Istanbul“ vom Fenster seines Kinderzimmers entfernte. 1993 war das, Odabaşi lebte damals mit seiner Familie in Remscheid, nur wenige Kilometer von Solingen entfernt. Dort hatten vier Neonazis im Mai 1993 das Haus der Familie Genç in Brand gesteckt, drei Mädchen und zwei Frauen starben. „Die Erwachsenen haben damals gesagt, dass die Menschen sterben mussten, weil sie Türken waren“, sagt Odabaşi. „Ich habe dann aus Angst alles entfernt, was darauf hinweisen könnte, dass wir eine türkische Familie sind.“
Odabaşi hat eine Dokumentation über den Anschlag und dessen Folgen gedreht. „Hört uns zu – Der Anschlag von Solingen“ zeigt, welche Auswirkungen die Tat auf die deutsch-türkische Community in Deutschland hatte. Der Regisseur macht deutlich, dass der Hass hinter dem Brandanschlag ein generationenübergreifendes Trauma ist, das auch 30 Jahre später nicht überwunden ist. Für die Familie Genç nicht, aber auch nicht für viele andere Deutsch-Türken. Odabaşi beschreibt ein Gefühl von Beklemmung und Unwohlsein, das ihn immer wieder einholt. Als die NSU-Morde aufgedeckt wurden oder nach den rassistischen Attentaten in Halle und Hanau. „Die Angst ist dann immer wieder da“, sagt der 35-Jährige.
In der Doku erinnern sich Zeugen des Anschlags von Solingen an die Tat und die verzweifelten Versuche der Erwachsenen, zumindest ihre Kinder aus dem brennenden Haus zu retten. Odabaşi gibt Einblicke, wie der Anschlag auch seine eigene Familie beschäftigt hat. So erzählt etwa seine Tante, dass sie damals in die Ruine geklettert ist und einen verkohlten Stein mitgenommen hat.
Odabaşi hat mit der Moderatorin Aminata Belli über Rassismus gesprochen, aber auch mit Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und NRWs ehemaligem Ministerpräsidenten Armin Laschet. Laschet war erster Integrationsminister in Deutschland und spricht in der Doku auch über seinen damaligen Spitznamen „Türken-Armin“. Özdemir bezeichnet den Brandanschlag von Solingen als einen der Gründe für seinen Entschluss, für den deutschen Bundestag zu kandidieren. Als erster Abgeordneter mit türkischen Eltern wurde er 1994 schließlich in den Bundestag gewählt.
Odabaşi spricht in der Doku auch mit Cihan Genç, der ein Jahr nach dem Tod seiner beiden Schwestern geboren wurde, aber der Regisseur will bewusst „nicht die traurige Vergangenheit der Familie durchwühlen“, wie er sagt. Cihan Genç erzählt, dass seine Eltern immer noch die Schreie seiner Schwestern hören, wenn sie nachts wieder nicht schlafen können. Die Mädchen waren erst vier und neun Jahre alt, als sie starben.
Laschet erinnert an die inzwischen verstorbene Mevlüde Genç, die Großmutter der Mädchen, die auch ihre beiden Töchter bei dem Anschlag verloren hat. „Das Besondere an ihr war, dass sie schon am Tag nach der Tat zur Versöhnung aufgerufen hat“, sagt Laschet in der Doku. Doch Odabaşi fragt, warum Opfer von Gewalt auch noch die Versöhnung übernehmen müssen. Er wünscht sich, dass nicht nur an Jahrestagen über Rassismus gesprochen wird. „Rassismus beginnt im Alltag mit vielen Kleinigkeiten“, sagt er. „Es ist ganz wichtig, dass wir nicht erst über Rassismus reden, wenn Menschen sterben.“ In der Doku spricht Odabaşi den Zuschauer immer wieder direkt an: „Versteh‘ mich nicht falsch“, sagt er, „du hast diese Taten nicht begangen, aber Vorurteile und Ablehnung sind wie Brandbeschleuniger, der in falschen Händen landet.“
Die 30-minütige Dokumentation „Hört uns zu – Der Anschlag von Solingen“ wird am Mittwoch, 24. Mai, um 22.15 Uhr im WDR gezeigt und ist vorab auch in der ARD Mediathek zu finden.