Ein Arzt unter Druck WDR-Doku erhebt schwere Vorwürfe gegen Bonner Kinderpsychiater

Bonn · In ihrem Fernsehbeitrag „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ erhebt Nicole Rosenbach schwere Vorwürfe gegen den Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff.

Der erste Satz in Nicole Rosenbachs WDR-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ lautet ganz lapidar: „Wir Medien haben ihn groß gemacht.“ Mit diesem Hinweis meint der Sprecher aus dem Off den Bonner Kinderpsychiater und Bestsellerautor Michael Winterhoff, der in dieser ersten Szene in einigen Filmschnipseln von Gastauftritten bei Sandra Maischberger, Anne Will, Markus Lanz und Frank Plasberg zu sehen ist. Die Creme der deutschen TV-Talkszene versicherte sich seiner Expertise ebenso wie viele andere Medien, darunter auch der Bonner General-Anzeiger.

In seinen Büchern, die mit reißerischen Titeln wie „Warum Kinder zu Tyrannen werden“ (2008) für sich werben, diagnostiziert der Kinderpsychiater eine gesellschaftsübergreifende toxische Eltern-Kind-Partnerschaft. Eine These, die den Filmemachern jedoch ebenso fragwürdig erscheint wie die Methoden des Kinderpsychiaters, den betroffenen Kindern und Eltern zu helfen. In dem WDR-Beitrag sieht sich Winterhoff nun massiven Vorwürfen ausgesetzt, die frühere Patienten und Fachleute gegen ihn erheben. Gegen diese Vorwürfe setzt sich Winterhoff mit rechtlichen Mitteln zur Wehr. In einer Mitteilung seiner Anwälte an den Bonner General-Anzeiger heißt es: „Die Presseanwälte Winterhoffs teilen mit, dass der WDR-Bericht seiner Ansicht nach Falschdarstellungen enthält.“ Winterhoff werde gegen die WDR-Berichterstattung juristisch vorgehen.

Winterhoffs in mehreren Bestsellern formulierte Theorie fußt auf eigenen Beobachtungen, wonach Kinder seit den 1990er Jahren häufig in einem familiären Milieu aufwachsen, das auf ein konfliktfreies, partnerschaftliches Miteinander setzt. Damit aber würde man die Kinder restlos überfordern. In seinem Buch „Warum Kinder zu Tyrannen werden“ benennt Winterhoff drei entscheidende Beziehungsstörungen zwischen Kindern und Erwachsenen:

- erstens die Partnerschaft, in der das Kind von den Erwachsenen als gleichberechtigter Partner wahrgenommen werde,

- zweitens die Projektion, in welcher der Erwachsene beim Kind ein Bedürfnis nach Liebe zu stillen sucht,

- drittens die Symbiose, die eine nach Winterhoffs Auffassung zu enge Eltern-Kind-Beziehung beschreibt.

Vor den Folgen warnt Winterhoff in seinem Buch eindringlich: „Wir befinden uns mittlerweile in einem Ausnahmezustand, in dem Kinder zu Erziehern ihrer Eltern geworden sind und diese rein lustbetont steuern können, ohne Grenzen aufgezeigt zu bekommen.“ Für Winterhoff schon 2008 ein „Missstand, der in letzter Konsequenz die Existenz unserer friedlich zusammenlebenden Gesellschaft gefährdet“.

Als 2019 sein jüngster Bestseller mit dem Titel „Deutschland verdummt“ erschien, bezeichnete die „Zeit“ den 1955 in Bonn geborenen Autoren als den „Thilo Sarazzin der Erziehung“ und wunderte sich über dessen Erfolg bei Eltern, Lehrern und Erziehern: „Warum folgen sie den verschwurbelten Gedanken eines Psychiaters, dessen wichtigster Therapievorschlag darin besteht, in den Wald zu gehen? Der Kinder als ‚Monster’ bezeichnet und tatsächlich behauptet, mehr als die Hälfte von ihnen seien psychisch gestört.“ Auch an der wissenschaftlichen Evidenz seiner Arbeit kamen Zweifel auf. Selten untermauere der Autor seine steilen Thesen mit Fakten und Zahlen, bemängelte die „Neue Zürcher Zeitung“ in ihrer Besprechung des Buchs „Deutschland verdummt“.

Rosenbachs Recherchen für den WDR konfrontieren den Zuschauer jedoch mit weit mehr als einer fachlichen Kritik an seinen Thesen. Hier geht es ganz handfest um Biografien, um Kinder und Jugendliche, die vor der Kamera aussagen, während der Behandlung durch den Kinderpsychiater großes Leid erfahren zu haben. Mehrere Betroffene berichten von ihren Erfahrungen mit dem Medikament Pipamperon. In dem Film erzählen sie, dass sie das sedierend wirkende Neuroleptikum zum Teil jahrelang einnehmen sollten. Starke Müdigkeit als Nebenwirkung wird in dem Film mehrfach erwähnt. Eine anonym bleibende Erzieherin, die in einer von Winterhoff betreuten Einrichtung gearbeitet hat, beschreibt ein routinemäßiges Vorgehen des Kinderpsychiaters. „Gehst du zu Winterhoff, hast du einen Narzissten und bekommst Pipamperon“, sagt sie.

Diese Vorwürfe weist Winterhoff zurück, wie der Kinderpsychiater nach Ausstrahlung des WDR-Beitrags auf seiner Homepage in einer Stellungnahme dokumentierte.

In einem Interview auf der Homepage des WDR zeigt sich Nicole Rosenbach überrascht von den Reaktionen auf ihren Film. „Wir haben ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass die Reaktionen auf den Film so stark sein würden“, teilte sie mit. „Es haben sich nicht nur viele weitere Betroffene gemeldet, sondern auch Sozialpädagog:innen und Therapeut:innen. Darüber hinaus Jurist:innen, die den Opfern ihre Hilfe kostenfrei angeboten haben. Außerdem haben zahlreiche Zuschauer:innen Geld gespendet, damit die Betroffenen sich juristisch wehren können – man darf ja nicht unterschätzen, dass Verfahren dieser Art sich über Jahre hinziehen können und sehr kostspielig sind, wenn zum Beispiel Gutachten erstellt werden müssen.“ Rosenbach weist in dem Interview auch auf die Solidarität unter den Betroffenen hin, die sich nun auch zusammengeschlossen hätten. „Sie tanken auf – bisher waren sie ganz allein.“

Jana Stevens, die im Beitrag ausführlich zu Wort kommt und sich als Opfer Winterhoffs sieht, äußert bereits in Rosenbachs Beitrag den Wunsch, juristisch gegen den Kinderpsychiater vorzugehen. Mittlerweile hat sie dafür eine Spendenseite im Internet eingerichtet. „Unser Ziel ist es, – sofern rechtlich möglich – eine Klage einzureichen und vor Gericht zu kämpfen“, schreibt sie auf der Seite. Bis sie ihr Spendenziel von 70.000 Euro erreicht hat, fehlen – Stand Montag – noch 18
.000 Euro.

Nicole Rosenbachs Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ ist noch bis zum 8. August 2022 in der ARD-Mediathek abrufbar.

Dieser Artikel ist zuerst im Bonner General-Anzeiger erschienen.

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