Analyse Warum in NRW die Brücken bröckeln

Düsseldorf · In NRW werden in diesem Jahr noch 80 Autobahnbrücken auf ihre Standfestigkeit überprüft. Experten gehen davon aus, dass es an der A 4, A 45 und A46 zu Sperrungen kommt. Auch die Bahnbrücken geraten jetzt ins Visier.

 NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) muss in diesen Tagen mit mehreren schlechten Nachrichten klarkommen.

NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) muss in diesen Tagen mit mehreren schlechten Nachrichten klarkommen.

Foto: Miserius, Uwe

Fritz Guckuk ist seit 35 Jahren Chef des Speditionsunternehmens Guckuk-Logistik in Köln. Er disponiert 15 Sattelschlepper, die Gefahrgut, Baustoffe und Lebensmittel transportieren. "Wegen der neuen Situation wird das Geschäft für uns immer schwieriger", erklärt der 54-Jährige. "Was die Infrastruktur betrifft, ist NRW mittlerweile zu einem Entwicklungsland geworden", schimpft Guckuk.

Die "neue Situation" — damit meint der Geschäftsführer die Behinderungen für den Schwerlastverkehr im Raum Köln. Nach der Sperrung der Rheinbrücke an der A 1 bei Leverkusen für Lastwagen trat NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) am Montag mit der nächsten Hiobsbotschaft vor die Presse. Jetzt müssen die Autofahrer auch auf der Umleitungsstrecke mit langen Staus rechnen.

Standfestigkeit von 80 Brücken wird nachberechnet

Ingenieure hatten festgestellt, dass die Brücke des Autobahnkreuzes Leverkusen umgehend repariert werden muss. Während der Sanierungsarbeiten ist dort nur Tempo 60 erlaubt, die Fahrspuren werden verengt. "Ich kann schon jetzt darauf hinweisen, dass wir wahrscheinlich in Bälde weitere Autobahnbrücken in NRW reparieren oder teilsperren müssen", sagte Groschek. In diesem Jahr soll die Standfestigkeit von 80 Brücken nachberechnet werden.

Schon jetzt ist klar, dass allein an der Sauerlandlinie (A 45) 79 Autobahnbrücke saniert werden müssen. Verkehrsexperten im Düsseldorfer Landtag gegen davon aus, dass auch die A 4 und die A 46 betroffen sind. Der Landesbetrieb Straßen NRW hat 375 Brücken aufgelistet, die unter Verdacht stehen, nicht mehr dem technischen Standard zu entsprechen.

Die Ursachen für das Dilemma sind vielschichtig. Nachvollziehbar erscheint, dass die Ingenieure in den 50er Jahren die Verkehrsexplosion der kommenden Jahrzehnte nicht vorhersehen konnten. Das Güterverkehrsaufkommen hat sich seit 1980 mehr als verdoppelt. Die Lastwagen sind überdies ständig schwerer geworden. 1956 lag das zulässige Höchstgewicht bei 24 Tonnen — mittlerweile sind 44 Tonnen erlaubt. Bis 2050 soll das Güteraufkommen auf den deutschen Straßen von derzeit 3,7 Milliarden Tonnen auf 5,5 Milliarden Tonnen ansteigen. "Immer mehr Menschen kaufen Waren im Internet", sagt Verkehrsminister Groschek. "Jede Bestellung bei Zalando und Amazon erhöht das Verkehrsaufkommen."

Neben der erhöhten Belastung tragen auch Baumängel und lückenhafte Berechnungen zu der Misere bei. In einem Fachbeitrag zur "Ertüchtigung der Brücken in NRW" heißt es, früher seien "Stahlsorten mit spezifischen Schwächen verwendet worden, die heute längst vom Markt verschwunden sind". Vor allem die Großbrücken der Baujahre vor 1980 sind betroffen. "Ältere Spannstahlsorten können durch Spannungsrisskorrosion gefährdet sein", heißt es in dem Bericht. Zu geringe Bauteilabmessungen führten ebenfalls zu "konstruktiven Defiziten". Auch Auswirkungen wie Temperaturschwankungen und Klima-Einflüsse wurden offenbar nicht hinreichend berücksichtigt.

Land der maroden Brücken

NRW — das Land der maroden Brücken. Denn Verkehrsminister Groschek befürchtet, dass auch der Bahnverkehr schon bald durch Reparaturarbeiten betroffen ist. "Immerhin sind viele Bahnbrücken mehr als 100 Jahre alt", warnt der Minister. Sperrungen könnten auch hier massive Auswirkungen für den Passagier- und Güterverkehr zeitigen.

Die Müngstener Brücke zwischen Solingen und Remscheid ist das prominenteste Beispiel der sanierungsbedürftigen Eisenbahnbrücken in NRW. Vor knapp drei Jahren musste die Geschwindigkeit auf der aus dem Jahr 1897 stammenden Brücke wegen Schäden an den Lagern auf zehn km/h reduziert werden. Güterzüge durften überhaupt nicht mehr über die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands rollen. Nach Messfahrten zur Untersuchung der Statik musste die Wupper-Querung schließlich vollkommen stillgelegt werden. Mittlerweile ist sie für besonders leichte Personenzüge wieder freigegeben. Die Sanierungsarbeiten sollen 2016 abgeschlossen sein und 30 Millionen Euro kosten.

Die Sperrung der Bahnverbindung im Bergischen wirft ein Schlaglicht auf das drohende Szenario. Das Eisenbahnbundesamt hat im vergangenen Jahr im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums 256 Bahnbrücken untersucht und fand Mängel. Die Bahn versicherte eilig, dass in keinem Fall eine akute Gefährdung des Betriebs gegeben sei. Die verunsicherten Fahrgäste wurden vorerst beruhigt.

Auslöser war eine Forderung des Unternehmens, dass der Bund sich finanziell stärker an Investitionen in das Schienennetz beteiligen soll. Allein für die Sanierung von Brücken sollte der Bund vier Milliarden Euro zahlen. Das Verkehrsministerium zog aus der Sonderprüfung den für die Bahn wenig schmeichelhaften Schluss, das Unternehmen habe "massiv" weniger in die Brücken investiert als für die Substanz-erhaltung nötig gewesen wäre. Bilanztechnisch müsse man von "Werteverzehr" sprechen, sagt Lothar Ebbers vom Fahrgastverband Pro Bahn.

Die Zurückhaltung bei Investitionen in Instandhaltung und Ersatz schaffe besondere Probleme, weil bei den Eisenbahnbrücken "zwei Wecker gleichzeitig ticken". Die technische Lebensdauer von gleich zwei Brückengenerationen laufe nahezu gleichzeitig ab, warnt der gelernte Verkehrsplaner. Zum einen seien um das Jahr 1900 mit der damals neuen Stahlbautechnik eine große Zahl von Brücken errichtet worden, deren Baustoff jetzt mürbe werde. Zum anderen seien nach dem Krieg sehr viele Brücken eilig mit nicht sehr hochwertigen Stählen wiederaufgebaut worden — auch deren Zeit neige sich jetzt dem Ende zu.

620.000 Euro im Jahr

Die Folgekosten des Brücken-Notstands sind schon heute enorm. Solange die Güterzüge noch weitgehend unbehindert rollen, treffen die wirtschaftlichen Schäden vorerst den Straßenverkehr. Ulrich Soénius, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Köln, hat berechnet, dass den Spediteuren wegen der Umwegkilometer pro Tag und Lkw rund 1700 Euro an Zusatzkosten entstehen, das sind mehr als 620.000 Euro im Jahr. "Dieser Wert wird steigen", ist sich Soénius sicher.

Der frühere Verkehrsminister von Sachsen-Anhalt, Karl-Heinz Daehre, wird morgen im Verkehrsausschuss des Düsseldorfer Landtags die Ergebnisse der nach ihm benannten Kommission zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur vorstellen. Im April will sich die Verkehrsministerkonferenz in Flensburg mit den Vorschlägen der Experten beschäftigen. Dabei soll unter anderem die Ausweitung der Lkw-Maut auf Landstraßen und die Einführung einer Vignette für Pkw diskutiert werden.

(RP/csi/das)
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