Sechseinhalb Stunden in ICE gefangen "Ich muss ein großes Lob an die Zugbegleiter aussprechen"

Köln · 400 Fahrgäste sitzen über Nacht bei Gütersloh im ICE fest. Äste hatten die Oberleitung beschädigt. In dem Zug fällt erst der Strom aus, dann die Toiletten. Ein Passagier berichtet, wie er die Nacht erlebte. Lobende Worte hat er für die Zugbegleiter.

Gestrandet im ICE in Bielefeld
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Gestrandet im ICE

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Damian Schwichtenberg kennt sich aus mit Bahnfahren: Jedes Wochenende pendelt er von Kiel nach Köln und zurück. Doch was dem 18-Jährigen jetzt widerfahren ist, hat er zuvor noch nicht erlebt: Zusammen mit rund 400 weiteren Fahrgästen saß Schwichtenberg sechseinhalb Stunden im ICE542 fest. Durch das Unwetter über Teilen Nordrhein-Westfalens waren am späten Donnerstagabend zwischen Bielefeld und Gütersloh Äste auf die Gleise gestürzt und hatten die Oberleitung beschädigt.

Und das war passiert: Der Auszubildende fährt am Donnerstagnachmittag in Kiel los und strandet auf seiner Reise das erste Mal in Hamburg - wegen des Unwetters über Norddeutschland. Die Verbindung Hamburg - Bremen - Köln ist lahmgelegt, so wie später beinahe alle ICE-Strecken im Norden. Schwichtenberg entschließt sich, einen Schlenker über Berlin zu machen, um von dort über Hannover nach Köln zu kommen. Angesichts der Umstände keine schlechte Idee. "Bis Berlin ist auch alles super gelaufen", sagt er am Freitag unserer Redaktion.

Vor Hannover bleibt der Zug stehen, inzwischen ist es 22.30 Uhr. "Da standen wir erstmal eine Weile doof rum." Das kennt man von der Bahn, kein Grund zur Sorge. Anschließend geht es weiter nach Hannover. Dort die Überraschung: Hunderte Menschen strömen in den Zug. Die Bahn hat einen vorausfahrenden ICE in Hannover enden lassen, die Passagiere müssen umsteigen. Viele von ihnen sind bereits stundenlang unterwegs.

Schwichtenberg überlässt seinen Sitzplatz einer Mutter mit Kinderwagen und zwei kleinen Kindern. "Viele Leute haben im Gang gesessen. Aber die Stimmung war erstaunlicherweise gut, die Leute waren entspannt." Bis Bielefeld verläuft die Fahrt ohne weitere Zwischenfälle, dann kommt der Zug erneut zum Stehen, diesmal endgültig. Die beschädigte Oberleitung hat sich im Stromabnehmer des ICE verheddert. Die Fahrgäste hören eine Durchsage: Die Weiterfahrt verzögere sich um 60 Minuten.

Sofort fällt der Strom aus, die Notbeleuchtung geht an. Schon 20 Minuten später funktioniert die Klimaanlage nicht mehr. "Viele Leute im Zug, keine Klimaanlage, keine Fenster: Das hat sich schnell ordentlich aufgeheizt", erzählt der 18-Jährige. Die Türen bleiben zwei Stunden lang geschlossen, verlassen dürfen die Passagiere den Zug nicht. Ein Sprecher der Deutschen Bahn erklärt auf Nachfrage unserer Redaktion: "Da die Leitungen nicht geerdet waren, wäre es lebensgefährlich gewesen, die Fahrgäste auf freier Strecke den Zug wechseln zu lassen." Irgendwann werden die Türen doch geöffnet: "Da sind erstmal alle Raucher zu den Türen geströmt. Und dann alle anderen, die in den Waggons keinen Handyempfang hatten", erzählt Schwichtenberg.

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Nach einer Stunde trifft ein Notfallmanager ein, dann die Feuerwehr. Sie muss den Stromabnehmer erden. Es wird eine Diesellok angefordert, die den ICE abschleppen soll. Das Ganze dauert. Irgendwann sind in dem Zug auch keine Ansagen mehr möglich: "Da lief alles nur noch über Mundpropaganda von Waggon zu Waggon", sagt Schwichtenberg.

Beide Bordbistros sind zu - aus Personalmangel. Irgendwann schließen die Berliner Zugbegleiter die Bordküche auf, verteilen Getränke. Dann alles, was noch da ist: Pfannkuchen, Brote, hartgekochte Eier. "Das war total toll", sagt Schwichtenberg. Viele von den Reisenden, die in Hannover eilig umsteigen mussten, haben weder Snacks noch Getränke dabei. Passagiere laufen durch die Bahn und helfen, Getränke zu verteilen. "Ich war total überrascht, wie gelassen, freundlich und hilfsbereit die Leute an Bord waren", betont Schwichtenberg. "Und ich muss auch mal ein großes Lob an die Zugbegleiter aussprechen." Sie hätten alles ihnen Mögliche getan, um es den Fahrgästen so angenehm wie möglich zu machen. "Die taten mir noch mehr leid als wir Passagiere, die waren völlig durch."

Eine Dame, die schon in Berlin betrunken in die Bahn gestiegen war und kurzzeitig zu motzen beginnt, wird von den anderen Fahrgästen gebeten, ruhig zu bleiben - und hält sich daran. Dann bricht die Nacht ein, viele Passagiere schlafen, auf dem Boden, dort wo Platz ist. Oder versuchen es zumindest. Erst um kurz nach fünf Uhr morgens, nach sechseinhalb Stunden gefangen im ICE, ist der Schaden behoben. Der Zug wird in den nächsten Bahnhof nach Gütersloh geschleppt, im Schritttempo. Strom gibt es weiterhin nicht. "Auch die Toiletten waren nicht mehr zu gebrauchen, irgendwann waren sie halt voll", sagt Schwichtenberg. Gegen sechs Uhr trifft ICE542 in Gütersloh ein, die Passagiere können in einen anderen Zug umsteigen.

In Dortmund noch eine Überraschung, diesmal eine positive: Eine Bäckereikette stellt körbeweise belegte Brötchen zur Verfügung, und es gibt Kaffee! Um 9 Uhr morgens erreicht Schwichtenberg endlich Köln - hier hätte er eigentlich um 23.14 ankommen sollen. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Das will er später nachholen: Er muss heute noch nach Mannheim. Mit der Bahn.

Hinweise der Redaktion:

Am Tag nach der Störung auf der Bahnstrecke bei Gütersloh bemüht sich die Bahn um Schadensbegrenzung: "Es ist uns bewusst, dass das eine außergewöhnlich ärgerliche Situation für die Fahrgäste war", sagte ein Bahnsprecher am Freitag unserer Redaktion. Die rund 400 Fahrgäste, die mehr als sechs Stunden in dem ICE festsaßen, sind daher aufgerufen, sich an den Kundendialog zu wenden. Dort werde man ihnen den kompletten Fahrpreis erstatten. Außerdem soll jeder Fahrgast einen Reisegutschein über 150 Euro sowie eine Schachtel Pralinen zur Entschädigung erhalten.

(oko)
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