Duisburg Vermittler soll "Problemhaus" befrieden

Duisburg · Orhan Jasarovski vermittelt in Duisburg zwischen den rumänischen Armutsflüchtlingen, der Stadt und den Anwohnern. Er kennt die Probleme der rund 500 Bewohner des Hauses in Rheinhausen.

 Orhan Jasarovski vor dem "Problemhaus" in Duisburg.

Orhan Jasarovski vor dem "Problemhaus" in Duisburg.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Es dauert keine Minute, da fällt der erste Schuss. Ein zweiter folgt, dann ein dritter. Die Kinder aus dem "Problemhaus" in Duisburg schießen vor dem Gebäude mit Platzpatronen auf Orhan Jasarovski, als er um die Ecke kommt. Dann stürmen sie auf ihn los und zerren an seiner Jacke. Sie freuen sich, dass er wieder da ist. Orhan behandelt sie gut. Schnell kommen auch einige Erwachsene auf die Straße, um den 34-Jährigen zu begrüßen. In kürzester Zeit ist Orhan umringt von Rumänen, die alle etwas von ihm wollen. Die Kinder werden weggeschickt. Als sie gehen, streicht Orhan ihnen über den Kopf und sagt: "Rahmetullah — Gott möge gnädig zu euch sein."

Orhan kennt jeden im "Problemhaus". Und jeder im "Problemhaus" kennt Orhan. Seit August vermittelt er als Mediator zwischen den etwa rund 500 Bewohnern des Gebäudes und den Anliegern. Er sorgt jeden Tag dafür, dass die rumänischen Kinder in die Schule gehen und Deutsch lernen. Er hilft ihren Eltern, Formulare auszufüllen, übernimmt Behördengänge und geht mit ihnen zum Arzt. Orhan, der aus Mazedonien stammt und wie die meisten Flüchtlinge im "Problemhaus" dem Volk der Roma angehört, sieht sich selbst als "Brückenbauer zwischen den Nationen". Neben ihm gibt es in Duisburg nur noch ein paar Streetworker, einige städtische Mitarbeiter vom Ordnungs- und Jugendamt, die sich für die rund 10 000 Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa, die in der ganzen Stadt verteilt leben, engagieren. Doch die deutschen Helfer werden nicht wirklich akzeptiert. Auf Orhan hingegen hören sie meistens im "Problemhaus". Er spricht ihre Sprache. Sie sehen ihn als Vorbild an, weil er es in Deutschland zu etwas gebracht hat — trotz aller Widerstände und Widrigkeiten, die ihm als Roma bis heute begegnen.

Leonard steht neben Orhan an der Straße vor dem "Problemhaus" und fasst ihm von hinten an die Schulter. Leonard, ein junger stämmiger Mann von 23 Jahren, ist fast blind. Er besitzt nur noch 35 Prozent seiner Sehkraft, dafür singt er gut. Deswegen nennen ihn seine Landsleute nur den Mann mit der Hammerstimme. Doch zum Singen fehlt ihm heute die Lust. Sein sieben Jahre alter Sohn muss dringend zum Arzt, er hat die Augenkrankheit seines Vaters geerbt. Er muss ins Krankenhaus gefahren werden zur Untersuchung. Für ein Taxi fehlt das Geld, auch aus dem Haus kann den Jungen niemand fahren. Darum fragt er Orhan. Wenn ein Roma einen anderen Roma um etwas bittet, muss dieser helfen. Das ist Gesetz. Orhan greift zum Handy und ruft Silvana an, eine Freundin, die schon oft in solchen Fällen geholfen hat. Denn selbst kann Orhan nicht fahren. Er ist bis zu 60 Prozent schwerbehindert, schielt auf einem Auge und muss sein rechtes Bein nachziehen. Orhan steckt sein Handy wieder ein. Silvana kann auch diesmal helfen.

Die Polizei macht die Südosteuropäer für eine Vielzahl von Diebstählen, Einbrüchen und Raubüberfällen verantwortlich. In den ersten neun Monaten dieses Jahres haben die Ermittler im Umfeld des "Problemhauses" 150 Tatverdächtige ermittelt, darunter viele Jugendliche und Kinder. Die Bewohner wehren sich gegen diese Darstellung der Polizei: "Wir wollen als Bürger wahrgenommen werden, nicht als Tiere", betont Leonard. "Alle sagen, wir lügen, wir stehlen, wir rauben, wir machen auf die Straße. Das stimmt nicht. Auch wenn es manchmal so aussieht."

Als Orhan drei Jahre alt ist, erkrankt er an Kinderlähmung. Seine Mutter hat ihm damals gesagt: "Orhan, du hast eine Behinderung und bist Roma, du wirst dich in deinem ganzen Leben immer besonders anstrengen müssen." Er wächst in einem Slum bei Skopje auf. In der Schule will niemand mit ihm spielen, die Kinder beschimpfen ihn als "Zigan", hänseln ihn wegen seiner Behinderungen. Orhan flüchtet sich in die Literatur. Er liest Gorki und Dostojewski. Als er zehn Jahre alt ist, gehen seine Eltern mit ihm nach Deutschland. Doch die Diskriminierungen hören zunächst nicht auf. Nach einem halben Jahr spricht er Deutsch. Mit 13 Jahren soll er eine Klasse überspringen. Aber dazu kommt es nicht. Seine Familie wird abgeschoben. Zurück in Mazedonien, macht er die Schule zu Ende, schafft einen Einserabschluss. Er bewirbt sich um einen Studienplatz in Deutschland. An der Uni Düsseldorf studiert er Germanistik und Politik. Er schließt mit der Note 1,5 ab, schreibt eine Doktorarbeit und bewirbt sich bei 21 Städten in der Verwaltung. Nur die Stadt Duisburg antwortet ihm und bietet ihm eine Stelle als Mediator in einem privaten Sprachförderverein an, der durch öffentliche Mittel unterstützt wird. Orhan sagt zu.

Im "Problemhaus" wohnen ausschließlich rumänische und keine bulgarischen Armutsflüchtlinge. Letztere, so berichtet Orhan, als er vor dem Gebäude steht, würden nie in solch widrigen Verhältnissen leben. "Bulgaren sind meistens gebildeter als Rumänen. Sie kommen erst nach Deutschland, wenn sie wissen, dass sie eine halbwegs saubere Unterkunft haben." Die rumänischen Bewohner des "Problemhauses" gehören zwei Großfamilien an, zwei sogenannten Sippen mit je einem Oberhaupt: den Clans der Barbulescht und der Cindera. Beide sind eigentlich verfeindet. Nur das Elend, in dem sie leben, lässt sie die Fehde vorübergehend ruhen.

Orhan wohnt mit seiner bald einjährigen Tochter Samia und seiner Frau Selma in Düsseldorf. Seine Angst, eines Tages nach Skopje zurück zu müssen, ist nach wie vor groß. Denn noch läuft sein Einbürgerungsverfahren. Dafür muss er einen festen Arbeitsplatz nachweisen. Doch seine Tätigkeit als Mediator läuft am 31. Dezember aus. Für eine Verlängerung fehlt dem Träger offenbar das Geld. Eine neue Stelle hat er noch nicht gefunden. Auch seine Frau besitzt keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Die Ausländerbehörde stellt ihnen immer wieder neue Auflagen.

Die Roma sind sehr religiös, trinken nicht, rauchen nicht, verhüten nicht. "Deswegen haben wir auch so viele Kinder", sagt Milo, der von oben runtergekommen ist und sich ebenfalls zu Orhan und den anderen auf die Straße vor dem "Problemhaus" gesellt hat. Dann werden die Roma plötzlich ganz unruhig. Die Erwachsenen gehen zurück ins Gebäude. Mehrere schwarze Limousinen halten vor dem Haus. Muskelbepackte Männer mit Stiernacken steigen aus und verschwinden im Gebäude. Sie sollen für den Vermieter arbeiten. Die Bewohner haben Angst vor den Männern, niemand möchte etwas über sie sagen, selbst Orhan nicht. Nur einer traut sich, anonym über sie zu sprechen: "Sie kommen ein- bis zweimal im Monat und klopfen an jede Tür, um das Geld für die Miete in bar abzuholen. Wer nicht zahlen kann, wird bedroht und eingeschüchtert." Nach einer halben Stunde kommen die Männer wieder aus dem Gebäude, steigen in die Luxusautos und fahren weg. Auch die Rumänen kommen wieder raus auf die Straße, als wäre nichts gewesen.

Orhan ist müde, es ist kalt, und eigentlich drängt die Zeit: Zu Hause wartet seine Familie auf ihn. Doch er kann nicht gehen, obwohl er schon seit Stunden mit den Roma redet. Immer mehr von ihnen kommen aus dem Haus zu ihm auf die Straße. Er darf keinen wegschicken. Das würde ihren Stolz verletzen, sie beleidigen. Das Vertrauen in ihn wäre zerstört. Orhan bräuchte nicht mehr wiederkommen. Also hört er sich die Sorgen jedes Einzelnen an. Die Gespräche setzen ihm zu. Er nimmt das Leid mit nach Hause. Selbst in seinen Träumen verfolgt ihn das Elend. Loslassen? Das kann er nicht.

(RP)
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