Fotojournalist aus Gruiten „Großvater fotografierte die Titanic“

Gruiten · Vor 110 Jahren, in der Nacht auf den 15. April 1912, sank der Luxusliner auf den Grund des Nordatlantiks. Einige der letzten Bilder vor dem Untergang machte ausgerechnet ein Fotograf aus der Region: Erich Benninghoven aus Haan-Gruiten.

 Die Titanic während des Auslaufens aus Southampton. Rechts ist Erich Benninghoven bei der Arbeit zu sehen – zufällig oder ganz bewusst aufgenommen von einem zweiten Fotografen.

Die Titanic während des Auslaufens aus Southampton. Rechts ist Erich Benninghoven bei der Arbeit zu sehen – zufällig oder ganz bewusst aufgenommen von einem zweiten Fotografen.

Foto: Sammlung Günter Bäbler

Die Titanic auf einem Foto, kurz nach dem Ablegen im englischen Southampton: An Deck sind die Silhouetten von Menschen zu erkennen, die sich auf ihre Schiffsreise freuten, viele auf ein neues Leben in Amerika. Fünf Tage später waren die meisten tot – ertrunken, erfroren oder von Wrackteilen erschlagen. Nicht nur die Tragik zieht Hildburg Hübener in den Bann dieses eindrucksvollen Motivs. Fotografiert wurde es von ihrem Großvater Erich Benninghoven.

Zahlreiche berühmte Fotos stammen von ihm. Erich Benninghoven gehörte zu den ersten großen Fotojournalisten des Deutschen Reichs. Er begleitete Kaiser Wilhelm II. auf Reisen, fotografierte Adelige und Industrielle auf der ganzen Welt, Palästina vom Ölberg aus. Während des Ersten Weltkriegs hielt er die Gräuel an Ost- und Westfront fest und fotografierte Anfang der 30er-Jahre auch noch Adolf Hitler auf dessen Weg zur Macht. Vor allem Leopold Ullsteins „Berliner Illustrirte Zeitung“ druckte Benninghovens Fotos aus aller Welt.

Für Titanic-Historiker sind die Fotos von Erich Benninghoven eine Sensation. Die Motive waren zwar bereits bekannt, nicht aber, wer sie fotografierte. Das haben die Autoren des Buchs „Die Titanic war ihr Schicksal – Die Geschichte der deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder“ bei ihren Recherchen herausgefunden. „Dass ausgerechnet ein deutscher Fotograf zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige der wichtigsten Fotos geschossen hat, ist eine kleine Sensation für die Titanic-Forschung“, sagt der Schweizer Titanic-Historiker Günter Bäbler.

Der Gymnastikraum war ausgestattet mit den ­modernsten Sportgeräten, darunter Punching Ball, Rudergerät und ein Reitapparat.

Der Gymnastikraum war ausgestattet mit den ­modernsten Sportgeräten, darunter Punching Ball, Rudergerät und ein Reitapparat.

Foto: Sammlung Günter Bäbler

Heute gibt es nur wenige Bilder der Titanic. Die meisten Fotos, die wir vom verunglückten Luxusliner kennen, zeigen in Wahrheit das baugleiche Schwesterschiff Olympic. Das liegt an der kurzen Lebensdauer der Titanic, aber auch am geringen Interesse an ihr vor ihrem Untergang. „Sie war lediglich die leicht verbesserte Version des erstgebauten Schiffs“, sagt Günter Bäbler. Während der Bau der Olympic auf der Werft Harland & Wolff im nordirischen Belfast in allen Einzelheiten dokumentiert wurde, hielt der Werftfotograf bei der Titanic lediglich noch Besonderheiten fest, die sich von der Olympic unterschieden. Und während im Juni 1911 die Jungfernfahrt der Schwester ein großes Presse-Ereignis darstellte, war das Interesse vor der ersten Reise der Titanic von Southampton nach New York am 10. April 1912 gering. „Berühmt wurde sie erst durch ihren Untergang“, sagt Bäbler.

Auch Hildburg Hübener kannte die Verbindung ihres Großvaters mit der Titanic bislang nicht. Die 78-jährige Enkelin erinnert sich an einen liebevollen Opa, der nie krank und immer gut gelaunt gewesen sei. „Wenn wir die Tür seines Biedermeier-Sekretärs knarzen hörten, da wussten wir: Opa trinkt wieder ein Schnäpschen“, sagt sie. Über seine Zeit als erfolgreicher Fotograf bis in die 30er-Jahre hinein sprach er mit seiner Enkelin kaum. „Ich denke, das hatte mit dem Grauen zu tun, das er als Fotograf im Ersten Weltkrieg an der Front erlebte.“

 Vorgeführt wurden auch die beiden Suiten mit Privatpromenade, die teuersten Kabinen.

Vorgeführt wurden auch die beiden Suiten mit Privatpromenade, die teuersten Kabinen.

Foto: Sammlung Günter Bäbler

Erich Benninghoven war Rheinländer, geboren am 24. Februar 1873 in Gruiten (heute ein Stadtteil von Haan) nahe Mettmann als Sohn eines Mühlenbesitzers. Noch heute trägt ein Ort im Kreis Mettmann den Familiennamen. Statt in die Fußstapfen seiner alteingesessenen Bauernfamilie zu treten, ging Erich Benninghoven nach England, um das Fotografenhandwerk zu lernen, und ließ sich dann in der Reichshauptstadt nieder. Das Berliner Adressbuch von 1911 weist ihn wohnhaft in Steglitz als Illustrator und Fotograf aus.

 Erich Benninghoven mit seinen Kindern Erich und Hildegard.

Erich Benninghoven mit seinen Kindern Erich und Hildegard.

Foto: Sammlung Hildburg Hübener

Über die Titanic hätte Benninghoven wohl einiges berichten können. Damals, als er und weitere Fotografen am Morgen des 10. April 1912 von einem Manager der White Star Line über die Decks der Titanic geführt wurden, dürfte das für ihn ein Routine-Termin gewesen sein. Erst wenige Monate zuvor war er von den Kriegsfronten aus Tripolis zurückgekehrt, wo er die Kämpfe zwischen den türkischen und italienischen Truppen festhielt. Jetzt wurde er durch saubere und luxuriöse Räume geführt. „Auf diesem Presserundgang stellte die Reederei der Öffentlichkeit die Besonderheiten der Titanic vor“, sagt Bäbler.

Das mit Pflanzen berankte Café Parisien, inspiriert von einem Pariser Original.

Das mit Pflanzen berankte Café Parisien, inspiriert von einem Pariser Original.

Foto: Sammlung Günter Bäbler

Vorgeführt wurden etwa die beiden Suiten mit eigener Privatpromenade, die teuersten Kabinen. In der Sommersaison verlangte die Reederei 870 Pfund pro Überfahrt – damals ein Vermögen. Die Journalisten sahen auch Gesellschaftsräume wie das Café Parisien: Es grenzte steuerbord direkt an das À-la-carte-Restaurant. Nach den ersten Olympic-Reisen hatte die Reederei die Baupläne der Titanic geändert und ein weiteres überdachtes Promenadendeck für überflüssig erachtet. „Stattdessen erhielt das Schiff einige zusätzliche Kabinen und eben das mit Pflanzen berankte Café, inspiriert von einem Pariser Original“, so Historiker Bäbler. Die Tour führte die Besucher auf dem Bootsdeck ebenso in den Gymnastikraum, ausgestattet mit den modernsten Sportgeräten der Firma Rossel, Schwarz & Co. aus Wiesbaden – darunter Punching Ball, Rudergerät und ein Reitapparat, auf dem Benninghoven eine unbekannte junge Frau in Szene setzte.

Der Berliner fotografierte auch Titanic-Kapitän Edward John Smith auf dem Bootsdeck. Dieses wohl letzte Porträt zeigt ihn in schwarzer Uniform vor den Fenstern der Offizierskabinen nahe der Kommandobrücke. Smith stand kurz vor dem Ruhestand und gehörte zu den erfahrensten Kapitänen seiner Reederei, die ihm seit Jahren die Flaggschiffe anvertraute.

Mit einem Schwung an Motiven verließ Erich Benninghoven das Schiff, um mit seiner Kamera in der Hafeneinfahrt darauf zu warten, dass sich die Titanic mittags in Bewegung setzte. Dazu postierte sich der Fotograf an Deck der am Kai liegenden Beacon Grange. Hier entstand ein Bild, das Günter Bäbler und Hildburg Hübener gleichermaßen elektrisiert. Im Vordergrund ist Erich Benninghoven bei der Arbeit während des Auslaufens der Titanic aus Southampton zu sehen – zufällig oder auch ganz bewusst aufgenommen von einem zweiten Fotografen. „Da wir die an diesem Tag entstandenen Fotos den Agenturen zuordnen können“, sagt Bäbler, sei es nahezu sicher: „Der Fotograf mit dem Bowlerhut muss Erich Benninghoven sein.“

Fünf Tage später sank der Ozeanriese nach der Kollision mit einem Eisberg auf den Grund des Nordatlantiks. 1496 Menschen starben in dieser Nacht zum 15. April 1912. Und die Fotos von Erich Benninghoven zeigten fortan nicht mehr nur irgendein großes Passagierschiff beim Auslaufen aus Southampton, sondern die letzten Tage der berühmten Titanic.

Seinen eigenen Lebensabend verbrachte Erich Benninghoven bei Familienangehörigen im südhessischen Bad Schwalbach. Er starb dort im Mai 1965 im Alter von 92 Jahren. Im Nachlass des Fotografens befindet sich auch ein undatiertes Foto, das Adolf Hitler dabei zeigt, wie er von Kindern Blumen entgegennimmt. Somit setzte er den Mann in Szene, ohne den Benninghovens Fotoschatz heute wohl noch existieren würde. Denn der Großteil seiner Arbeit verbrannte bei einem Bombenangriff auf das Ullstein-Archiv gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Die Titanic-Motive aber haben alle Zeiten überdauert, weil sie nach dem Untergang millionenfach gedruckt wurden.

„Aber wer weiß, welche Geheimnisse das Berliner Archiv über meinen Großvater noch preisgegeben hätten“, sagt Hildburg Hübener und schaut auf das Titanic-Foto vom 10. April 1912.

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