NRW-Ministerium entwickelt Konzept Unfallopfer fordern mehr Hilfe

NRW-Ministerium entwickelt Konzept · Wer Opfer eines Verkehrsunfalls wird, erleidet nicht nur körperliche Verletzungen. Oft kommen seelische Belastungen hinzu. Betroffene klagen über zu wenig Unterstützung. Das NRW-Justizministerium lässt derzeit Experten Konzepte zur Verbesserung des Opferschutzes entwickeln.

An den 1. November 1995 erinnert sich Jeanette Schlossmacher (54) aus Willich noch genau. Damals war die Leiterin eines Kindergartens mit ihrem Mann Karl-Heinz im Auto unterwegs. Vor einer "roten" Ampel an der Kreuzung L 390 / Krefelder Straße hielt der heute 64-Jährige an. "Dann hörte ich meinen Mann nur noch rufen: ,Oh Gott, was macht der ?'", erinnert sich Jeanette Schlossmacher. "Der" war ein 71-jähriger Autofahrer. Auf Grund überhöhter Geschwindigkeit schleuderte er in den Wagen der Schlossmachers. "Das alles ist eingebrannt in meine Erinnerung, in meine Seele", sagt die 54-Jährige.

Noch heute leidet sie unter den Folgen des Unfalls. "Mir wurde bei vollem Bewusstsein die Wirbelsäule gebrochen", berichtet Jeanette Schlossmacher. Nur "haarscharf" sei sie an einer Querschnittslähmung vorbei gekommen, sagten ihr später die Ärzte. Auch ihr Mann erlitt schwere Verletzungen. Drei Monate verbrachte die Kindergartenleiterin im Krankenhaus und in der Reha-Klinik. Dennoch wird ihre Hüfte ihr Leben lang steif bleiben.

Seelische Verletzungen

"Noch dreimal schlimmer als die körperlichen Verletzungen war das Seelische", meint Jeanette Schlossmacher nach fast zwölf Jahren. Infolge des Unfalles wurde die Kindergartenleiterin arbeitslos. "Dadurch bin ich in ein fürchterliches Loch geknallt. Ich fühlte mich nicht mehr als vollwertiger Mensch." Auch mit "allem Alltäglichen" — von der Bergung des Unfallwagens über das Kofferpacken für die Reha-Klinik bis hin zu Gerichtsterminen — musste das Ehepaar alleine fertig werden. "Dabei hat uns niemand geholfen", sagt die Willicherin.

"Wirkliche Hilfe" bekam die 54-Jährige erst ein Jahr nach dem Unfall durch die Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer ("Dignitas") in Viersen. Angelika Oidtmann — sie war 1974 selbst Opfer eines Unfalls — hat den Verein 1988 gegründet. Heute hat Dignitas 1500 Mitglieder, unterhält bundesweit Beratungsstellen und hilft pro Jahr 1800 Unfallopfern.

Bessere Betreuung

Die Zahl der Anfragen belegt: Der Bedarf an Unterstützung ist bei Unfallopfern immer noch hoch — trotz Verbesserungen der Betreuung in den letzten Jahren. So gibt es in NRW bei der Polizei Opferschutzbeauftragte. "Dadurch ist der Opferschutz flächendeckend gut organisiert", meint Wilfried Echterhoff, Professor am Institut für Psychologische Unfallnachsorge in Köln.

Dennoch sieht der Experte erhebliche Defizite. Für besonders wichtig hält Wilfried Echterhoff die unmittelbare "psychologische Erstversorgung" der Opfer — noch am Unfallort. "In den ersten zwei, drei Tagen entscheidet sich, ob es beim Schreck bleibt oder ob es zum Dauerschaden kommt." Setze die Therapie zu spät ein, litten die Opfer ihr Leben lang. Immer wieder kehrten Bilder des Unfalls zurück. Immer wieder stelle sich die Frage: "Warum passierte gerade mir das?" Immer wieder quälten Ängste.

Auch Jeanette Schlossmacher fühlt sich bis heute unsicher — vor allem als Beifahrerin in einem Auto. "Der Unfall hat mir erstmals im Leben klar gemacht: ,Es gibt keine Sicherheit im Leben.'" Ein Gedanke, eine Furcht, die sie lähmt.

Expertengruppe im Ministerium

Damit es nicht so weit kommt, strebt die Landesregierung eine Optimierung des Opferschutzes an. Eine vom Justizministerium einberufene Expertengruppe, der auch Wilfried Echterhoff angehört, entwickelt entsprechende Konzepte. Die Pläne sollen im kommenden Monat vorgestellt werden.

Wilfried Echterhoff hält zwei Veränderungen für dringend erforderlich. Einerseits müsse es staatlich geförderte Beratungsstellen für Unfallopfer geben — vergleichbar den Verbraucherschutzzentralen. Zum anderen müsse, solange es kaum Psychotraumatologen mit Kassenzulassung gebe, ein Abrechnungssystem geschaffen werden, dass den Einsatz von Spezialisten ohne Zulassung möglich mache.

Die Bestrebungen lassen "Dignitas"-Gründerin Angelika Oidtmann hoffen. "Nachdem wir lange allein für die Würde der Verkehrsunfallopfer gekämpft haben, denkt man nun auch anderswo darüber nach. Aber es hat sehr lange gedauert. Und sehr vieles könnte besser sein."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort