Ehrenamtler übernehmen in Geldern Wir retten die Dorfkneipe

In NRW gibt es immer weniger Gaststätten. Jede zweite hat in den vergangenen 25 Jahren dicht gemacht. Besonders auf dem Land fehlen deshalb Treffpunkte. In Geldern haben Ortsansässige eine Ehrenamtskneipe gegründet. Mit Erfolg.

 Ehrenamtler hinter der Theke der Gelderner Dorfkneipe "Lünebörger" (v. l.): Marianne Ophey, Walter Ophey, Wilfried Neubert, Ria Leuker, Hein Lemmen und Holger Schmitz.

Ehrenamtler hinter der Theke der Gelderner Dorfkneipe "Lünebörger" (v. l.): Marianne Ophey, Walter Ophey, Wilfried Neubert, Ria Leuker, Hein Lemmen und Holger Schmitz.

Foto: Gottfried Evers

Wer Hein Lemmen beim Bierzapfen in seiner Dorfkneipe "Lünebörger" in Geldern-Pont zusieht, könnte meinen, dass er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht hat, als den Gerstensaft in die Gläser zu füllen. Dabei ist der 69-Jährige eigentlich Mathematik-Lehrer. Wirt ist er erst seit etwa zwei Jahren. Und das nicht, um damit Geld zu verdienen.

Er macht das ehrenamtlich, gemeinsam mit etwa zehn anderen aus dem Ort, um dem Kneipensterben entgegenzuwirken. "Als innerhalb weniger Monate hier bei uns die letzten drei Gaststätten plötzlich aufgaben, mussten wir was unternehmen", erklärt Lemmen (69). Anfangs sei man belächelt worden.

Eine ehrenamtlich geführte Kneipe könne doch nicht funktionieren, haben nicht wenige damals im Dorf gemeint. Höchstens drei Monate haben sie dem "Lünebörger" gegeben. Sie haben sich geirrt. Zum Glück, sagen sie heute. "Man ist froh in Pont, wieder ein Lokal zu haben, wo man sich treffen kann", betont Lemmen. Zum Klönen. Zum Kartenspielen. Und zum Biertrinken.

In Pont hat man sich selbst geholfen und die Ärmel hochgekrempelt. In vielen anderen ländlichen Regionen, aber auch im Ruhrgebiet steht es allerdings schlecht um den Stammtisch. Der urdeutsche Ort der klaren Worte, wo die große Weltpolitik auf einen Bierdeckel passt, wo Tacheles geredet und kein Blatt vor den Mund genommen wird, stirbt aus.

Mehr als jede zweite Kneipe in Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen 20 Jahren zu gemacht. 1994 hat es laut Landesamt für Statistik noch 21.165 Schankwirtschaften gegeben. Übrig geblieben sind davon weniger als 8000 - mit stark fallender Tendenz.

Viele machen das strikte Rauchverbot für den Niedergang des deutschen Kulturguts verantwortlich. Falsch sei das nicht, meint Isabel Hausmann, stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Nordrhein. Aber die ganze Wahrheit eben auch nicht.

Die angespannte Lage der Gastronomen sei zwar durch die strikten Gesetze noch einmal extrem verschlechtert worden, "aber die Hauptursache für das Kneipensterben liegt tiefer", sagt Hausmann. Und zwar im gesellschaftlichen Wandel. Angefangen mit dem Zechensterben und dem Niedergang der Schwermetallindustrie.

Mit den Jobs seien auch die Gäste der Kneipen im Ruhrgebiet allmählich gegangen. Das Ausgehverhalten habe sich geändert. Während man früher nach der Arbeit auf ein Bier und ein Schwätzchen noch in die Kneipe an der Ecke gegangen sei, trinke man sein Bierchen heute zu Hause auf dem Sofa und gucke dabei Fernsehen oder chatte mit Freunden im Internet. "Und die, die rauchen, kommen halt nicht mehr, weil für sie die Zigarette zum Bier einfach dazu gehört", sagt Hausmann.

Geraucht werden darf im "Lünebörger" natürlich auch nicht. Das mache aber niemanden etwas aus, sagt Lemmen. Dann gehe man halt kurz vor die Tür. Der Heimat- und Förderverein hat den Schankbetrieb übernommen. Das Geld, das man erwirtschaftet, fließt in die Vereinskasse. Viel sei es nicht, aber immerhin könne man damit die eine oder andere Reparatur und Anschaffung bezahlen. Etwa einen Kaffeevollautomaten, den man in diesem Jahr kaufen möchte. Und auch die Putzfrau, die einzige bezahlte Kraft in der Kneipe, könne man aus den Erlösen finanzieren.

Viel Arbeit, viel Herzblut, wenig Geld

Das "Lünebörger" wächst und gedeiht. Nicht schnell, aber stetig. Von jedem der gut zehn ehrenamtlichen Betreiber stecke eine Menge Herzblut in der Kneipe. Man habe alles selbst renoviert. Und was man nicht selbst hinbekommt, erledigt ein Handwerker aus dem Dorf. Unentgeltlich natürlich. Für ein Bier. "Für uns war das doch alles neu", sagt Lemmen. "Wir mussten so Sachen wie Buchführung und die Reinigung der Zapfanlage erst lernen."

Ehrenamtskneipen wie das "Lünebörger" gibt es sehr wenige; im Sauerland knapp eine Hand voll. Viel mehr sind es in NRW nicht. Zu aufwendig. Zu anstrengend. Zu arbeitsintensiv. Mancherorts winkt man deswegen ab, wenn darüber diskutiert wird. Dabei ist man sich dort, wo es keine Kneipe mehr gibt, meistens einig darin, dass sich was ändern muss.

In Wiescheid, einer Ortschaft im Osten von Langenfeld, wo die letzte Gaststätte im September dicht gemacht hat, ist das zum Beispiel so. Auf dem Gelände des alten Schützenhofes sollen bald Parkplätze entstehen. Traurig sei das, sagen die Bürger dort, vor allem ältere Menschen, die sich abgehängt fühlen. Die Jüngeren, klagen sie in Wiescheid nicht selten, interessiere das alles doch nicht. Sie gingen abends in Fitnessstudios. Oder sonstwohin. Aber nicht mehr in die Kneipe. So einfach wollen die Wiescheider das aber nicht hinnehmen. Man sehnt sich nach einer Pinte, wo man mal wieder ein schönes Schnitzel oder ein Kotelett mit Pommes bekommt - nach ehrlicher und einfacher Küche, wie man im Rheinland sagt.

Nostalgische Erinnerungen an die gute alte Zeit ("Früher war alles besser") reichten aber nicht, um das Kneipensterben zu stoppen, sagt Hausmann. Die Gastronomen müssten neue Wege gehen, um auch wieder jüngere Gäste zu gewinnen. "Man muss was bieten, was man zu Hause nicht so einfach bekommt", sagt sie. Eine Nische finden. Sich spezialisieren. Auf Gin. Oder auf Whisky. Oder Craftbeer. Es gebe bereits Beispiele, dass so etwas gut funktioniere.

Auch Hein Lemmen und seine Mitstreiter haben ihren Gästen etwas zu bieten. Altbewährtes. Eine Kegelbahn. Und das funktioniert. So gut sogar, dass sie aus den Nachbardörfern ins "Lünebörger" kommen, nur um alle Neune zu treffen. "Und das Schöne daran ist, dass es überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene sind", sagt Lemmen. "Ein 30-Jähriger fällt auf der Kegelbahn schon auf", sagt er augenzwinkernd.

(csh)
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