Beunruhigender Trend Tausende Haftbefehle sind in NRW offen
Düsseldorf · Die Zahl ist zuletzt wieder gestiegen. Oftmals geht es nicht nur um Bagatelldelikte, sondern auch um Sexualstraftaten, Totschlag und Mord. Woran das liegt und wie man das Problem lösen könnte.
In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl offener Haftbefehle im Vergleich zum Vorjahr erhöht. Das geht aus Zahlen des NRW-Innenministeriums auf Anfrage unserer Redaktion hervor. So sind aktuell landesweit 27.613 Haftbefehle offen (Stichtag 29. August). Zum Vergleich: Im Jahr 2023 (Stichtag 2. Januar) waren es 24.500, 2022 waren es 24.100. „Die Zahl ist zu hoch. Wir müssen angesichts dieser Entwicklung den sogenannten Einsatztrupp Fahndung bei der Kriminalpolizei wieder einsetzen“, forderte Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in NRW. „Diese Fahndung gab es früher, und sie suchte damals gezielt nach diesen Leuten, insbesondere natürlich nach den schweren Fällen. Wegen Personalmangels wurde dieses Instrument aber fatalerweise eingestellt“, erklärte Mertens.
Die aktuellen Zahlen setzen den steigenden Trend offener Haftbefehle seit Ende der Pandemie fort – sind aber noch etwas entfernt von der Vor-Corona-Zeit. So gab es im Jahr 2019 im Fahndungsbestand des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes (LKA) insgesamt 32.905 Haftbefehle – die Zahl war dann zunächst stark rückläufig. Ein Sprecher des NRW-Innenministeriums verwies darauf, dass die Zahlen grundsätzlich differenziert zu betrachten seien und immer nur eine Momentaufnahme darstellten.
Von den insgesamt 27.613 Haftbefehlen bestanden 611 wegen Sexualstraftaten, 319 wegen Mordes, 317 wegen Totschlags und 35 wegen Menschenhandels, Zwangsprostitution oder Geiselnahme. „Das heißt, es geht hier nicht nur um Bagatelldelikte. Vielmehr wird bei schwersten Delikten sogar in Kauf genommen, dass rechtskräftig Verurteilte unter uns frei herumlaufen“, sagte SPD-Rechtsexpertin Sonja Bongers.
Den größten Anteil der aktuellen offenen Haftbefehle machen aber die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen für nicht gezahlte Geldstrafen mit fast 14.576 Fällen aus.
„Der Berg an Haftbefehlen wächst, und Schwarz-Grün zeigt keinen erkennbaren Willen, ihn abzubauen. Es ist inakzeptabel, dass Gewalttäter und radikale Islamisten in NRW frei herumlaufen“, kritisierte FDP-Innenexperte Marc Lürbke. „Auch wenn hinter den Zahlen teils weniger schwere Straftaten stecken, bleibt die hohe Anzahl offener Haftbefehle ein Skandal“, so Lürbke weiter.
Auch der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Erich Rettinghaus, sieht Handlungsbedarf: „Es sind viel zu viele Haftbefehle offen. Das lässt den Rechtsstaat nicht gut dastehen“, sagte Rettinghaus. „Es ist für uns als Polizei aber auch nicht leicht, so viele offene Haftbefehle zu vollstrecken. Das ist sehr zeitintensiv und fordert große personelle Ressourcen.“
Die Vollstreckung solcher auf den ersten Blick vergleichsweise harmlosen Haftbefehle ist auch mit Gefahren für die Polizisten verbunden. „Wir sind seit der Explosion in Ratingen auch noch sensibilisierter als vorher“, hieß es aus Polizeikreisen. Bei der Explosion am 11. Mai 2023 waren mehrere Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr in einem Ratinger Hochhaus verletzt worden, neun von ihnen schwer. Der mittlerweile mehrfach wegen versuchten Mordes verurteilte Täter sollte zuvor eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten. „Dieses traurige Extrembeispiel zeigt, wie hoch das Risiko für die Polizei ist“, so Mertens.
Bei Kapitaldelikten hingen sei zu berücksichtigen, dass sich Verurteilte durch Flucht ins Ausland der Strafvollstreckung entziehen, so der Sprecher des NRW-Innenministeriums. Die gesuchte Person werde dann bei der Wiedereinreise inhaftiert. Zudem ist es laut Behördenangaben bei geringen Delikten in vielen Fällen nicht geboten, die Vollstreckung aktiv zu betreiben – wenn etwa die Auslieferung aus dem Ausland länger dauere als die zu erwartende Haftstrafe.
Die SPD sieht das NRW-Justizministerium gefordert. „Seit über einem Jahr hat uns Justizminister Limbach die Antwort auf unsere Fragen nach den offenen Haftbefehlen verweigert. Ob er sie nicht kannte oder unter den Tisch kehren wollte, bleibt sein Geheimnis“, sagte Bongers. „Minister Reul jedenfalls hat sie jetzt öffentlich gemacht, und sie sind erschreckend hoch“, so Bongers. Das NRW-Justizministerium hatte bei der Anfrage unserer Redaktion auf die Zuständigkeit des NRW-Innenministeriums verwiesen.