„Waldbaden“ in NRW Der Wald als Medizin

Neuhaus · Immer mehr Menschen setzen auf die Heilkräfte der Natur. So bieten Ranger des Landesbetriebs Wald und Holz regelmäßiges „Waldbaden“ an – geführte Wanderungen mit therapeutischem Effekt. Der Erfolg ist enorm.

 Mehrere Stunden in der Natur stärken tagelang die Gesundheit.

Mehrere Stunden in der Natur stärken tagelang die Gesundheit.

Foto: Markus Plüm

Goldenes Herbstlicht schimmert durch die Äste, der Wind rauscht in den Wipfeln, in der Luft hängt frischer Fichten-Duft. Ein paar Atemzüge nur, und der Körper entspannt sich. Schon bald möchte man abtauchen in dieses Wohlgefühl, mit allen Sinnen die Natur genießen, sie auf sich wirken lassen. Japanische Ärzte haben dafür einen Begriff geprägt: „Shinrin Yoku“ – Waldbaden. Der Wald als Medizin? Klar, sagt Oliver Szodruch. Seit Jahren schon war der Ranger des Landesbetriebs Wald und Holz NRW nicht mehr erkältet, genauso wie seine Kollegen. Ihre Therapie: Täglich im Grünen unterwegs zu sein. Nebenwirkungen: Keine – abgesehen vielleicht von durchgelaufenen Wanderstiefeln.

Eine Übung in Achtsamkeit

Seit zwei Jahren bringen Szodruch und seine Kollegen bereits Menschen in den Wald, um sie dessen heilsame Kräfte spüren zu lassen. Mit Patienten der Dr. Becker Klinik, die sich auf die Behandlung psychosomatischer Leiden spezialisiert hat, führt die Tour an diesem Tag am Möhnesee ins Grüne. Erste Lektion: Im Wald wird geduzt. Locker machen lautet Szodruchs Devise, denn die Wanderung soll kein Wettbewerb sein, sondern eine Übung in Achtsamkeit, eine Kur für alle Sinne. Es geht darum, den Wald zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Szodruch verteilt Zweige von einem Nadelbaum. „Zerreibt die Nadeln zwischen den Fingern und schnuppert mal“, sagt er. Duftet nach Zitrusfrüchten. „Douglasie“, erklärt er, „das Parfüm des Waldes.“

Aber nicht nur das. Bäume stoßen chemische Verbindungen aus, um miteinander zu interagieren. Mit diesen sogenannten Terpenen warnen sie sich beispielsweise vor Schädlingen und fahren ihr Immunsystem hoch. Forscher der Nippon Medical School in Tokio haben herausgefunden, dass auch Menschen auf diese Terpene reagieren und mehr weiße Blutkörperchen bilden, sogenannte Killerzellen, die Keime und körpereigene Krebszellen bekämpfen. Ein Spaziergang im Wald ist also nicht nur Aromatherapie, sondern belebt auch das Immunsystem. Anhaltend, wie Szodruch erklärt. Mehrere Stunden in der Natur stärken tagelang die Gesundheit. „Unter anderem deshalb sind Ranger auch so selten krank“, sagt Szodruch.

Einlassen auf die Kräfte der Natur

Bereits 1980 konnte der schwedische Arzt Roger Ulrich wissenschaftlich belegen, dass schon der Anblick eines Baumes durch ein Krankenhaus-Fenster die Heilung eines Patienten beschleunigt. Welche Wirkung kann da erst ein Spaziergang durch den Wald entfalten? Szodruch hält sich da mit Spekulationen zurück, er ist weder Wunderheiler noch Schamane, sondern ein geerdeter Forstwirtschaftsmeister, der seinen Gästen nur den Anstoß geben möchte, sich auf die Kräfte der Natur einzulassen. Ihnen zum Beispiel empfiehlt, im Bach zu kneippen, um die Durchblutung anzuregen. „Wärmer als 18 Grad darf das Wasser aber nicht sein“, sagt er. Und nebenbei erklärt, dass das Kiesufer auch als Gold des Baches bezeichnet wird.

Gerade auf solche Details kommt es Szodruch an, weil sie die Natur entschlüsseln, sie erfahrbar machen. Dass ein Wildschwein nach Maggi riecht zum Beispiel, wo sich das Sikawild versteckt und wie sich Fichten von Tannen unterscheiden. Etwa auf halber Strecke gilt es, sich unter turmhohen Buchen einen Ruheplatz zu suchen, am Stamm oder auf einem Stumpf, jeder für sich. Den Wald auf sich wirken zu lassen, dem Wind zu lauschen und dem Plätschern des Baches. Untersuchungen haben ergeben, dass dies den Parasympatikus aktiviert, den Ruhenerv, der auch für die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol verantwortlich ist. So konnte durch Studien in Japan nachgewiesen werden, dass Waldspaziergänge den Cortisol-Spiegel um 12,5 Prozent senken. Szodruch erzählt, dass er sich schon früher in Pausen gerne einen Baumstamm gesucht habe, um dort angelehnt ein Nickerchen zu halten. Weil er sich hinterher immer sehr erfrischt fühlte. „Das sind die Momente, von denen ich zehre“, sagt er.

Besser schlafen, niedrigerer Blutdruck

Weiter geht‘s, dank Ranger-Begleitung auch abseits der Pfade. Wir besuchen eine 250 Jahre alte Eiche mit ausladender Krone, die als Solitär auf einer Lichtung steht, als sei sie einem Gemälde von Caspar David Friedrich entsprungen. Es geht darum, die Energie des Baumes zu spüren. Oder einfach nur den Anblick zu genießen. Effekte treten so oder so auf: So schüttet unser Körper im Grünen vermehrt das Hormon DHEA aus. Es wird in der Nebennierenrinde produziert und schützt Herz und Gefäße.

Unbeeindruckt lässt die imposante Eiche auf jeden Fall niemanden zurück. Genausowenig wie das gesamte Waldbaden. Einen absoluten Gewinn für die Behandlung psychosomatischer Leiden nennt es Physiotherapeut Dieter Rurainski, der die Gruppe begleitet. „Die Patienten sind nicht nur begeistert, sie schlafen auch besser und ihr Blutdruck geht runter“, sagt Rurainski. „Und die meisten wollen das Naturerlebnis danach vertiefen.“

 Zum Waldbaden gehört es auch, sich ganz entspannt auf die Natur einzulassen – wie hier bei der Wanderung am Möhnesee.

Zum Waldbaden gehört es auch, sich ganz entspannt auf die Natur einzulassen – wie hier bei der Wanderung am Möhnesee.

Foto: Jörg Isringhaus
 Ranger Oliver Szodruch versucht, den Wald spürbar zu machen.

Ranger Oliver Szodruch versucht, den Wald spürbar zu machen.

Foto: Jörg Isringhaus

Wenn es nach der Klinik ginge, würden die geführten Wanderungen noch häufiger stattfinden. Aber Szodruch und seine Kollegen sind bereits hart am Limit, arbeiten daran, das Angebot im nächsten Jahr auszubauen. „Schließlich möchten wir, dass so viele Menschen wie möglich von den Kräften des Waldes profitieren“, sagt der Ranger. Das geht übrigens ganz gut auch ohne Profi: Einfach Wanderschuhe anziehen und ab ins Grüne.

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