Super-Recognizer bei der Polizei Die kein Gesicht vergessen
Düsseldorf · Nur zwei Prozent der Menschen sind in der Lage, Personen unter schwierigen Bedingungen wiederzuerkennen. Kriminaloberkommissar David Paprocki ist solch ein „Super-Recognizer“. Er hilft der Polizei bei der Tätersuche.
David Paprocki wirkt von vornherein wie einer, der sich jede Situation erst einmal gründlich anschaut, bevor er etwas dazu sagt. Er ist ein durchtrainierter Mittvierziger, der die Haare an den Seiten kurz und oben etwas länger trägt. Seine Miene ist freundlich, ansonsten verrät er nicht viel. Schon gar nicht, dass er über eine Fähigkeit verfügt, die nur zwei Prozent aller Menschen auf der Welt besitzen und die bei der Beschreibung seines Jobs bei der Dortmunder Polizei das Prädikat „Super“ rechtfertigt. Kriminaloberkommissar Paprocki ist ein „Super-Recognizer“, einer, der ein Gesicht unter Tausenden wiedererkennt, selbst wenn der oder die Betreffende sich äußerlich stark verändert hat.
„Super-Recognizer“ tragen immer häufiger zu Fahndungserfolgen der Polizei bei. In großen Menschenansammlungen, etwa bei Fußballspielen, suchen sie beispielsweise nach Personen mit Aufenthaltsverbot im Stadion oder nach flüchtigen Straftätern, deren Fotos bereits in den Polizeicomputern gespeichert sind. Oder sie werten Videos aus, auf denen Menschen gerade eine Straftat begehen – zum Beispiel eine Bank berauben, Ahnungslose bestehlen oder Überfälle begehen.
Dass immer mehr öffentliche Bereiche inzwischen videoüberwacht sind, erleichtert „Super-Recognizern“ die Arbeit. Doch Technik kann nicht alles. Noch scheitert Künstliche Intelligenz vielfach an der Identifizierung von polizeilich Gesuchten, wenn deren Aufnahmen zu verschwommen sind, die Betreffenden gealtert sind oder sich längere Haare beziehungsweise einen Bart wachsen ließen. Oder eine Maske trugen. „Super-Recognizer“ hingegen lassen sich nicht so leicht täuschen.
David Paprocki erinnert sich an eine Klassenfahrt als Jugendlicher. In der Jugendherberge, in der er auf andere Gleichaltrige traf, fiel ihm ein Junge auf, der sich merkwürdig verhielt. Als plötzlich einer seiner Klassenkameraden seinen Pullover vermisste, keimte in Paprocki ein Verdacht. Noch am nächsten Tag konnte er den vermeintlichen Täter so genau beschreiben, dass die verantwortlichen Lehrer bei einem Stubendurchgang das gesuchte Kleidungsstück tatsächlich bei ihm fanden. „Mensch“, sagte Paprockis Bruder mehr als einmal, wenn jener ihn bei der Begegnung mit früheren sozialen Kontakten auf die Zusammenhänge aufmerksam macht, „dass du die noch kennst!“
Jahrzehnte später ist David Paprocki dann bei der Dortmunder Polizei für die Aufklärung von Taschendiebstählen zuständig, schaut sich entsprechende Delikte an, die von Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. „Und ein paar Tage später steht ein mutmaßlicher Täter mitten in der Fußgängerzone plötzlich vor mir. Ich habe ihn als Verdächtigen sofort erkannt.“ Das allein reiche vor Gericht natürlich nicht für eine Verurteilung, erklärt Kriminaloberrat Jörg Weßels, Leiter des Auswahlverfahrens für „Super-Recognizer“ an der NRW-Polizeiakademie in Selm. Aber als Zeugenhinweis leiste eine solche Identifizierung einen wertvollen Beitrag zur weiteren strafrechtlichen Bewertung.
1000 neue „Super-Recognizer“, die „die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen finden können“, sucht nun ähnlich ambitioniert Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) im Rahmen eines Pilotprojekts. Bei knapp 58.000 Polizeibeschäftigten in seinem Bundesland könnte es rein rechnerisch ungefähr auf diese Zahl hinauslaufen. Doch die Auswahlkriterien für „überragende Gesichtsverarbeitungstätigkeit“, wie der Terminus technicus lautet, sind streng.
Diese spezielle Fähigkeit lässt sich nicht erlernen, wohl aber trainieren. Unter einer Auswahl verschiedener Profile gilt es zunächst, sich das Gesicht eines Gesuchten zu merken. 20 Sekunden Zeit bleiben dafür. Es folgen unterschiedliche Ausschnitte von Gesichtern. Abermals 20 Sekunden Zeit für die Wiedererkennung. Dann wird es noch schwieriger: Unschärfer, grobkörniger, verpixelter sind die Aufnahmen. Aber David Paprocki, der den Test schon vor Jahren bestanden hat, ist auch schon Leuten auf die Spur gekommen, obwohl diese eine Maske trugen, die ihr Gesicht großflächig bedeckte. Manchmal sei es auch die Art, wie sich jemand bewege, die ihn schließlich verrate, sagt er.
„Super-Recognizer“ – der Name deutet darauf hin – wurden zunächst vor allem im angelsächsischen Raum zur Kriminalitätsbekämpfung eingesetzt. Die erste Einheit wurde bei Scotland Yard in London gegründet. Sie hat unter anderem die offenbar russischen Täter gefunden, die vermutlich im Auftrag des Kremls hinter der Vergiftung des russischen Ex-Spions Sergej Skripal und dessen Tochter Julija steckten. Beide waren am 4. März 2018 in Salisbury bewusstlos auf einer Parkbank gefunden worden.
Britische „Super-Recognizer“ waren es auch, die von der nordrhein-westfälischen Polizei bei der Aufklärung der massenhaften sexuellen Belästigung von Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015 im Bereich von Hauptbahnhof und Dom zurate gezogen wurden. Und irgendwann dämmerte den Verantwortlichen auch hierzulande wohl die Erkenntnis: Solch fähige Leute sollte man tunlichst selbst rekrutieren.
Das Land Nordrhein-Westfalen spielt da noch immer nicht in der ersten Liga mit. Die Berliner Polizei setzt „Super-Recognizer“ in großem Stil bereits seit 2021 im Echtbetrieb ein. Dort wurde eine Ausbildungssoftware entwickelt, von der nun auch NRW profitieren will. Ausbildungsleiter Weßels verortet den Trainingsstand der Polizei in NRW im bundesweiten Vergleich zunächst „im oberen Mittelfeld“.
Nun also das Pilotprojekt „,Super-Recognizer‘ bei der Polizei in NRW“, das geeignete Kandidaten an den Standorten Köln, Düsseldorf, Dortmund, Essen, Bochum und im Kreis Siegen-Wittgenstein testen will. Bewerben kann sich dort zunächst jeder Polizeibeamte und jede Polizeibeamtin. Der Praxisversuch erstreckt sich über sechs Monate. Erfolgreiche Absolventen sollen anschließend auch in den jeweiligen Behörden eingesetzt werden.