Silas Degen sucht Zeitzeugen Student dreht Doku über Verschickungskinder in NRW
Düsseldorf · Das Kinderheim Johannaberg in Berlebeck zählte zu den mehr als 1000 Heimen bundesweit, in denen Kinder bis in die 80er-Jahre zur Kur verschickt wurden, dort aber oft Gewalt ausgesetzt waren. Eine Doku soll die Ereignisse dort beleuchten.
Das Leid der sogenannten Verschickungskinder ist in den vergangenen Jahren immer mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Nach dem Krieg bis in die 80er-Jahre wurden bundesweit acht bis zwölf Millionen Kinder für mehrere Wochen in Kurheime verschickt, um sich dort zu erholen und Beschwerden auszukurieren. Viele erlebten dort jedoch Misshandlungen, Gewalt, Zwangsernährung. Auch in NRW gab es solche Einrichtungen, etwa das Heim Johannaberg in Berlebeck im Landkreis Detmold. Der junge Filmstudent Silas Degen will die Ereignisse dort in einer Dokumentation beleuchten und sucht dafür noch Zeitzeugen. „Johannaberg war repräsentativ für viele andere Heime“, sagt Degen. „Deshalb hoffe ich, dass sich viele Betroffene in den geschilderten Erlebnissen wiederfinden.“
Degens Interesse an dem Thema rührt aus seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen ist der 23-Jährige in Bad Salzdetfurth, nur zwei Straßen entfernt lag das „Waldhaus“, ein Kinderkurheim, in dem es 1969 zu drei Todesfällen kam. Eines der Kinder starb möglicherweise, weil es zum Essen gezwungen wurde, ein weiteres an einer unbehandelten Infektion, das dritte wurde von anderen Kindern tödlich verletzt. „Ich habe dann begonnen, mich mit dem Haus zu beschäftigen und daraus ein Hörspiel entwickelt“, erzählt Degen. Das Thema ließ den Studenten der Filmhochschule Babelsberg aber nicht los, sondern weckte den Wunsch, sich intensiver damit zu beschäftigen und eine Dokumentation zu drehen.
Sein Ansatz: ein Heim in den Mittelpunkt zu stellen, um daran das damalige Konzept und die Missstände aufzurollen. „Bisher gibt es vor allem Dokus, die das Thema Kinderverschickung übergeordnet betrachten, einzelne Kurheime tauchen nur kurz auf“, sagt Degen. „Mein Werk soll sich aber dezidiert mit einem Heim befassen, stellvertretend für viele andere.“ Die Wahl fiel auf Johannaberg, das unweit des Hermanndenkmals am Rande des Teutoburger Waldes lag. Bis zur Schließung 1973 wurden erholungsbedürftige Kinder vornehmlich aus Nordrhein-Westfalen und Hamburg dorthin verschickt. Insgesamt gab es mehr als 1000 solcher Heime in Deutschland.
Um ein genaues Bild vom Alltag im Heim Johannaberg vermitteln zu können, sucht Degen nun Zeitzeugen, vornehmlich nach Berlebeck verschickte Kurkinder mit negativen wie positiven Erfahrungen. Aber auch Kinderpflegerinnen, Heimpersonal und Praktikantinnen, die Einblicke aus ihrer Perspektive geben können. Ziel ist es, dem Heim, das 1973 geschlossen wurde und heute als Schullandheim genutzt wird, ein Gesicht zu geben. Aus Dokumenten und Gesprächen hat Degen Anhaltspunkte wie einige Namen, zu denen er Informationen sammelt: die Tanten Anneliese, Lilo, Ute, Paula und Pitty (mit auffälligem niederländischen Akzent) sowie die Heimleitung Becker und der Arzt Dr. Lange. Außerdem fahndet das Filmteam nach historischen Fotografien, Postkarten und Gegenständen oder Möbelstücken aus dem Heim.
Die Finanzierung des Projekts, das unabhängig von der Filmhochschule entsteht, ist bereits gesichert. Unterstützt wird das Vorhaben von der Filmfördergesellschaft nordmedia, der Initiative Verschickungskinder und dem Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. Die Dreharbeiten sollen im Spätherbst oder Winter 2023 beginnen, der fertige Film wird laut Degen hoffentlich im Laufe des nächsten Jahres zu sehen sein. Kontakt zum Filmteam kann über die folgende Mailadresse aufgenommen werden: berlebeck@verschickungsheime.de. Alle Anschreiben werden auf Wunsch anonymisiert und vertraulich behandelt.