Bilanz der Staatsanwälte Verfahren gegen Clans – Zeugen ziehen Aussagen oft zurück

Essen · Staatsanwälte vor Ort in Essen führen immer mehr Verfahren gegen kriminelle Clans. Doch sie haben zunehmend mit Opfern und Zeugen zu tun, die ihre Aussagen zurückziehen oder ändern.

 Polizisten stehen bei einer Razzia gegen Clan-Kriminalität in der nördlichen Innenstadt von Essen in einem Lokal.

Polizisten stehen bei einer Razzia gegen Clan-Kriminalität in der nördlichen Innenstadt von Essen in einem Lokal.

Foto: dpa/Ina Fassbender

Die Justiz geht in Essen immer entschlossener gegen kriminelle arabische Familienclans vor. „Den beiden Staatsanwälten vor Ort ist es gelungen, seit Projektbeginn pro Jahr über 200 Ermittlungsverfahren mit Bezügen zur Clankriminalität zu führen“, sagte NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). In dem Zeitraum sind demnach 24 sogenannte Kammeranklagen mit einer Straferwartung von mindestens vier Jahren Freiheitsstrafe und 107 Anklagen zum Jugend-Schöffengericht gegen libanesische Täter erhoben worden; zusammengerechnet wurden Freiheitsstrafen von mehr als 200 Jahren verhängt. „Zudem ist es gelungen, die Strukturen zu erhellen und weitere Hierarchiestufen in Richtung der eigentlichen Strippenzieher zu durchdringen“, so Biesenbach.

Die sogenannten Staatsanwälte vor Ort wurden vor drei Jahren vom Justizminister im Kampf gegen die Clans ins Leben gerufen; es gibt sie in Duisburg und Essen, also in den Städten, in denen Clans besonders stark vertreten sind. Ziel ist es, die kriminellen Mitglieder ins Gefängnis zu bringen und die Clanstrukturen zu zerbrechen. „Wir wollen nicht nur die kleinen Fische auf der Straße. Wir wollen die Hintermänner“, so Biesenbach.

Ein zunehmendes Problem für die Ermittler werden jedoch Zeugen und Opfer, die ihre Aussagen zurückziehen. „In den Verfahren wird dann plötzlich pauschal behauptet, man hätte die Sache untereinander geklärt. Wir haben dann häufig den Verdacht, dass die Rücknahme der Aussage durch eine Drucksituation zustande gekommen ist“, sagt der Essener Oberstaatsanwalt Peter Gehrig. „Wir bekommen dann Sätze zu hören wie:  ,Ich kann mich nicht mehr erinnern, das ist schon zu lange her, ich weiß nicht mehr, was da passiert ist`“, sagt er. Die Ermittler vermuten, dass es im Hintergrund Verfahren mit sogenannten Friedensrichtern gegeben hat. Was da genau abläuft, wissen die Fahnder aber nicht. „Objektiv stellen wir nur fest, dass Strafanträge zurückgenommen werden und Opfer und Zeugen nicht mehr zu Vernehmungen kommen oder die Sachverhalte dann bagatellisiert werden“, sagt Gehrig.

Die Staatsanwälte versuchen, dagegen vorzugehen, was nicht einfach sei.  „Wir machen Angebote an Zeugen und gefährdete Opfer für Betreuungen und Schutz. Das sind Mittel, die Leute dann doch dazu zu bewegen, eine Aussage abzugeben“, so Gehring. „Wir haben sogar schon erlebt, dass im Gerichtssaal Aussagen zurückgezogen und geändert wurden. Der Justizminister kennt das wachsende Problem mit zurückgezogenen Zeugenaussagen und Friedensrichtern. „Wir haben uns mit diesem Phänomen schon intensiv beschäftigt. Wir haben deshalb ein Lagebild zur Paralleljustiz mit Wissenschaftlern erstellt“, sagte Biesenbach. Die Ergebnisse sollen Ende des Monats vorgestellt werden.

Auch die Staatsanwälte vor Ort in Duisburg berichteten zuletzt von den Zeugenbeeinflussungen. „Sie werden kontaktiert; nicht von den Beschuldigten, sondern von anderen aus dem Clan“, erklärte ein Duisburger Oberstaatsanwalt. „Dabei werden die Zeugen zum Beispiel an bestimmten Orten aufgesucht. Ihnen wird damit gezeigt, dass sie unter Beobachtung des Clans stehen“, sagte der Oberstaatsanwalt. „Es muss nicht einmal eine direkte ausgesprochene Bedrohung sein. Es reicht aus, dem Zeugen zu zeigen, dass man sie im Blick hat, um sie einzuschüchtern“, erklärte er. Dem Zeugen werde nahegelegt, die Aussage noch einmal zu überdenken. „Auffällig ist, dass die Kontaktaufnahme häufig erfolgt, nachdem die Verteidiger Akteneinsicht erhalten haben“, sagte er. In den Akten stehen Name und Anschrift der Zeugen.

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