Tradition in NRW Ist das Martinssingen vom Aussterben bedroht?

Düsseldorf · Viele unserer Leser berichten, dass Kinder an St. Martin nicht mehr von Haus zu Haus ziehen, um sich Süßigkeiten zu ersingen. Ein Brauchtumsexperte gibt allerdings Entwarnung und sagt auch: Islam und St. Martin lassen sich gut vereinbaren.

 Wer singt, bekommt Süßes (Symbolbild).

Wer singt, bekommt Süßes (Symbolbild).

Foto: Bretz, Andreas

In vielen Städten des Rheinlands gehörte es immer zu St. Martin wie der Braten zum Weihnachtsfest: das Gripschen. Kinder ziehen am Martinsfest von Haus zu Haus, singen ein Martinslied und bekommen dafür Süßigkeiten. Doch viele unserer Leser berichten auf Facebook, dass diese Tradition auf dem Rückzug sei. Sie beklagen, dass bei ihnen in diesem Jahr niemand mehr geklingelt habe. Eine Userin berichtet gar, Kinder hätten ihr bloß ein Handy hingehalten, das ein Martinslied abspielte. Andere erzählen hingegen, dass immer weniger Leute die Türe öffnen, weil sie sich den Gesang nicht anhören wollen.

Doch andere Leser berichten auch vom Gegenteil. In diesem Jahr hätten sie die Tür kaum schließen können, weil schon die nächste Kindergruppe auf der Matte stand. Und wieder andere Rheinländer geben zu, bei ihnen habe es diese Tradition nie gegeben.

Wie lassen sich diese unterschiedlichen Eindrücke erklären? René Bongartz ist ein Mann, der es wissen muss. Der Brüggener hat mit dafür gesorgt, dass St. Martin vor wenigen Wochen als NRW-Kulturerbe anerkannt wurde. Er hat nicht den Eindruck, dass das Gripschen generell auf dem Rückzug ist. „Es hat nach wie vor dort Bestand, wo es die Eltern an ihre Kinder weitergeben.“ Gerade in den Städten am Rhein ist das der Fall, in einigen Kreisen ist es von Ort zu Ort unterschiedlich, zum Beispiel im Kreis Viersen. Da kann es im nächsten Dorf schon wieder anders sein. Er räumt ein, dass Halloween einen gewissen Einfluss hat, denn nur wenige Tage vor St. Martin ziehen Kinder mittlerweile auch hierzulande von Haustür zu Haustür, um Süßigkeiten zu sammeln. „Mir ist aber zu Ohren gekommen, dass der Halloween-Hype schon wieder abnimmt“, sagt Bongartz.

Keinen negativen Einfluss hat nach seiner Beobachtung der zunehmende Anteil von Muslimen in Deutschland. „Das Verhältnis ist völlig problemlos“, sagt er. Nächstenliebe, Menschlichkeit und Offenherzigkeit sind ja Werte, die man überall schätzt. Muslimische Kinder zögen einfach mit. Zumal St. Martin ohnehin immer weniger mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht werde. „Mir ist nicht bang um die Tradition“, sagt er.

Doch auch die Historie spielt eine Rolle, wenn es ums Martinssingen geht, erklärt Bongartz. Das Gripschen ist entstanden aus den Feuerläufen, als das Rheinland noch zu Preußen gehörte. Im 19. Jahrhundert gingen die Kinder an St. Martin von Haus zu Haus und sammelten vor allem Brennholz, aber auch Gebäck. Dabei trugen sie brennende Pechfackeln. Weil es manchmal zu wild herging, untersagte der preußische Staat diese Feuerläufe. Während sich der Staat damit in den Großstädten nicht durchsetzen konnten, verschwanden sie auf dem Land erst einmal. In einigen Kommunen erlebte das Gripschen ein Revival, in anderen eben nicht. Jeder Ort entwickele seine eigenen Traditionen, sagt Bongartz. So gebe es in Kempen nach dem Zug ein großes Feuerwerk. Das haben umliegende Orte übernommen. Anderswo sei es völlig unbekannt.

In Bongartz’ Dorf, das zu Brüggen gehört, hat auch in diesem Jahr niemand an der Tür geklingelt und gesungen, sagt er. „Wenn ich die alten Leute frage, dann sagen sie: Haben wir immer schon so gemacht.“

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