Psychologe über „Squid Game“ „Beim Nachspielen der Szenen müssen Schulen klare Grenzen setzen“

Interview | Düsseldorf · In Belgien sollen Schülerinnen und Schüler gewaltvolle Szenen aus dem Netflix-Erfolg nachgespielt haben. Schulpsychologe Stefan Drewes über die Frage, was die Serie bei Kindern und Jugendlichen so beliebt macht, und warum sie auch ein Thema für den Unterricht sein könnte.

Squid Game: Charaktere und Figuren der Netflix-Serie - Fotos
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Das sind die Charaktere aus der Serie „The Squid Game“

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Foto: AFP/YOUNGKYU PARK

Die Serie „Squid Game“ aus Südkorea steht derzeit an der Spitze der Netflix-Charts. Hoch verschuldete Frauen und Männer spielen in vermeintlichen Kinderspielen um ein Preisgeld in Millionenhöhe. Wer verliert, stirbt. In der belgischen Stadt Erquelinnes sollen Schüler ihre Version der Serie nachgespielt und sich gegenseitig verprügelt haben. Stefan Drewes hat 15 Jahre lang das Zentrum für Schulpsychologie der Stadt Düsseldorf geleitet und arbeitet seit 2017 als Leiter des LVR-Zentrums für Medien und Bildung. Im Interview erklärt er, warum Eltern und Lehrkräfte seiner Meinung nach nicht darum herumkommen werden, sich mit der Serie zu beschäftigen.

Herr Drewes, nach den Vorfällen in Belgien gibt es bei manchen Menschen die Sorge, dass es ähnliche Szenen bald auch in Deutschland geben könnte. Ist diese Sorge gerechtfertigt?

Stefan Drewes Grundsätzlich ja. Wobei ich nicht davon ausgehe, dass sich durch die Serie allgemein die Gewalt an Schulen erhöhen wird, sondern dass es immer mehr Situationen geben wird, in denen Szenen aus der Serie nachgespielt werden. Es bedeutet ja auch für manche Jugendliche eine gewisse Lust, zeitweise Macht über andere zu haben. Und dafür bietet diese Serie verschiedene Szenen als Vorlage. Es geht in der Serie auch um viele Themen, die Jugendliche beschäftigen. Wo sind die moralischen Grenzen? Wie weit kann ich gehen, und wie reagiert die Umwelt? Was finde ich selbst noch in Ordnung, und was ist schon drüber? Was sind die Regeln in der Gesellschaft? Und das eingebettet in das bekannte Medium „Kinderspiel“, das Kindern und Jugendlichen vertraut ist. Beim Nachspielen der Szenen müssen Schulen klare Grenzen setzen und dies unterbinden. Das hohe Interesse an der Serie bietet aber auch Möglichkeiten, um mit Kindern und Jugendlichen über existentielle Themen ins Gespräch zu kommen.

Wie könnte so eine Auseinandersetzung in der Schule aussehen?

Drewes Zum einen kann im Unterricht eine Analyse solcher Serien vorgenommen werden. Wie ist die Serie gemacht? Welche Spannungsbögen gibt es? Und warum werden wir von ihr so in den Bann gezogen? Mit welchen Emotionen wird Spannung erzeugt? Zum anderen können verschiedene gesellschaftliche Themen aufgegriffen werden: Wie gehen wir mit Macht und Verlierern in der Gesellschaft um? Wie bilden sich soziale Gruppen? Und wie können wir aufbegehren gegen autokratische Systeme? All das kann gut mit älteren Schülerinnen und Schülern besprochen werden. Schwierig ist es, dies mit jüngeren Schülerinnen und Schülern zu thematisieren, die die Serie – oder zumindest Teile davon – sehen werden oder vielleicht sehen, dass Szenen daraus auf dem Schulhof nachgespielt werden. Die greifen das Gezeigte dann oft unreflektiert auf.

Stefan Drewes ist Leiter des LVR-Zentrums für Medien und Bildung in Düsseldorf.

Stefan Drewes ist Leiter des LVR-Zentrums für Medien und Bildung in Düsseldorf.

Foto: Stefan Drewes

In Großbritannien sollen Schulen einige Eltern vor dem Einfluss der Serie bereits warnen. In Belgien wandte sich die Schulleitung nach den Vorfällen auf dem Schulhof per Facebook an sie. Was denken Sie über solche Warnungen und Appelle?

Drewes Eltern und Lehrkräfte müssen sich damit auseinandersetzen, dass die Serie auf dem Markt ist und von jüngeren Kindern und Jugendlichen zumindest in Teilen gesehen wird. Das wird nicht zu verhindern sein. Auch wenn Erwachsene bei den extrem gewalttätigen Szenen oft erschrocken sind, müssen sie einen Weg finden, dies auch bei den Kindern oder Jugendlichen anzusprechen. Dann kann es hilfreich sein, über die starken Gefühle zu sprechen, die die Serie auslöst, dass die Gewalt in der Serie sehr überzeichnet ist oder über den generellen Umgang mit Gewalt in unserer Gesellschaft. In Schulen werden solche Gespräche jedoch leichter sein als im häuslichen Umfeld.

Oft wird Eltern empfohlen, möglicherweise problematische Serien lieber gemeinsam mit ihren Kindern zu schauen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Drewes Meiner Erfahrung nach zählen solche Produktionen zu den Serien, die Kinder und Jugendliche alleine oder in Gruppen schauen wollen. Da wollen sie keine Erwachsenen dabeihaben. Das Erleben solcher starken Emotionen wollen sie erst einmal ohne Eltern verarbeiten. Und da möchte man die Eltern, die erschrocken sind, sofort etwas dazu sagen und alles erklären wollen, eben nicht neben sich auf dem Sofa haben. Von daher ist meine Empfehlung an die Eltern – vor allem, wenn wir auf die Jugendlichen ab 16 Jahren schauen, für die die Serie ja eigentlich auch erst empfohlen ist – sich erst einmal selbst mit der Serie auseinanderzusetzen. Spätestens an Karneval, wenn das eigene Kind in dem roten Kostüm mit der Maske der Aufpasser herumläuft, die in der Serie die Spieler ohne emotionale Regung erschießen, werden sich einige Eltern mit dem Thema konfrontiert sehen. Und sich dann fragen müssen, wie sie darauf reagieren wollen.

Was macht die Serie denn gerade unter Kindern und Jugendlichen so beliebt?

Drewes Zum einen entsteht eine hohe emotionale Spannung, vom Erschrecken bis zu Ängsten und zu einer Sucht, die Serie bis zum Ende zu schauen und das Ende zu kennen. Zum anderen werden moralische Grenzen überschritten, mit Macht und Erniedrigung gespielt, die Kinder oder Jugendliche oft auch schon selbst erlebt haben oder zumindest sich damit auseinandersetzen. Zusätzlich werden Gefühle oder Ängste aus der eigenen Kindheit aufgegriffen. Aus einer Gruppe ausgeschlossen zu sein zum Beispiel. Nicht gewählt zu werden. Verlierer zu sein. Alle diese Emotionen werden aktiviert und dann mit extremer Gewalt verbunden. Das macht auch diese besondere Grenzerfahrung und diesen besonderen Schrecken der Serie aus. Zusätzlich kommt der soziale Druck hinzu, die Verbreitung über die sozialen Medien und eigene Weiterentwicklungen beim Nachspielen oder die Beteiligung an Challenges. Man muss also mitmachen, um dabei zu sein.

Sind Kinder und Jugendliche mit solchen Szenen denn überhaupt noch großartig zu erschrecken? Oder entsprechen sie mittlerweile schon ein bisschen unseren Sehgewohnheiten?

Drewes Das ist natürlich die Gefahr: Unsere Sehgewohnheiten führen dazu, dass neue Serien immer wieder noch extremer und Gewaltszenen immer noch effektvoller dargestellt werden müssen, um Emotionen auszulösen und damit letztendlich auch einen Suchtcharakter hervorzurufen. Diese Entwicklung werden wir jedoch nicht zurückschrauben können. Was wir aber tun können, ist Kinder und Jugendliche dahin zu bringen, das Gesehene richtig einordnen zu können. Und dabei werden wir dann vielleicht besonders auf diejenigen Schülerinnen und Schüler schauen müssen, die sowieso schon eine gewisse Gewaltneigung oder Gewaltfantasien mitbringen. Die Schulen haben dazu im Rahmen der Maßnahmen zur Gewaltprävention, mit den Medienscouts und den Konzepten wie dem Medienkompetenzrahmen NRW in allen Unterrichtsfächern viele Möglichkeiten dies aufzugreifen und gegenzusteuern.

 Die Netflix-Serie „Squid Game“ aus Südkorea ist auch unter Kindern und Jugendlichen beliebt.

Die Netflix-Serie „Squid Game“ aus Südkorea ist auch unter Kindern und Jugendlichen beliebt.

Foto: AP/Youngkyu Park

Für Netflix-Eigenproduktionen wie „Squid Game“ gibt es keine Einstufung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). Der Streamingdienst nimmt die Einstufung selbst vor. Spielt die FSK-Einstufung heutzutage überhaupt noch wirklich eine Rolle in Bezug auf den Jugendschutz?

Drewes Sie sollte unbedingt eine Rolle spielen. Es muss eine Orientierung geben für Eltern und Lehrkräfte, aber auch für die Kinder und Jugendlichen selbst. Zu einer gut entwickelten Medienkompetenz gehört auch, sich selbst vor Serien zu schützen, die nicht guttun oder die emotional überfordern. Und für einen effektiven Jugendschutz ist es unerlässlich, dass es Orientierung und Grenzen gibt. Wir werden Kinder und Jugendliche nicht vor negativen Erfahrungen bei Streamingdiensten schützen können, aber wir brauchen Empfehlungen und Altersgrenzen. Langfristig aber kann nur eine Stärkung der Kinder und Jugendlichen in der Medienkompetenz sowie Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit schwer verdaulichen Serien helfen.

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