Interview Anica Plaßmann „Keinen Sex zu wollen, gilt als peinlich“

Interview | Düsseldorf · Die Therapeutin erklärt, warum es völlig normal ist, mal keine Lust zu haben – auch in einer Beziehung.

 Sex ist schön, aber manchmal fehlt die Lust. Deswegen plädiert Anica Plaßmann für das Recht auf keinen Sex.

Sex ist schön, aber manchmal fehlt die Lust. Deswegen plädiert Anica Plaßmann für das Recht auf keinen Sex.

Foto: dpa-tmn/Christophe Gateau

Frau Plaßmann, Sie leben zurzeit sexfrei. Wieso?

Anica Plaßmann Das hat einen einfachen Grund – ich bin Single. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich Partnersex ohne Liebe nicht bereichert. In meine Biographie habe ich erotisch sehr unterschiedliche Phasen durchlebt. Mal mit Sex, mal ohne. Ich genieße es, mich frei entscheiden zu können. Für einen Partner, für eine emotionale Bindung, oder auch ohne. Nicht jede Beziehung ist besser als keine. Und manchmal ist keine besser als die, die gerade erreichbar wäre.

Sie sind Sex-Therapeutin – müssten Sie Paare nicht dazu ermutigen, Sex zu haben?

Plaßmann Zwang und Therapie sind nicht miteinander vereinbar. Deswegen sehe ich es als meine Aufgabe an, Freiräume aufzuzeigen, auch die Option der Sexfreiheit. Vor allem, wenn sich jemand fühlt, als blicke er durch ein sehr schmales Fenster an Wahlmöglichkeiten. Die individuelle Bettikette gestaltet jedes Paar für sich, es geht nur darum, dass beide dann fein damit sind. Und ohne Sex zu leben – auch in einer Partnerschaft – ist eine von vielen Möglichkeiten. Wir können Sex haben, aber wir müssen nicht.

Warum wird die fehlende Lust auf Sex so oft totgeschwiegen?

Plaßmann Sexuell abstinent zu leben, gilt als peinlich und unnormal. Darüber zu sprechen ist gar nicht so leicht. Wenn ich sage, ich lebe ohne Sex, heisst es „frigide“, „fade“, „die will wohl keiner“. Vor einigen Jahren habe ich Menschen zu einem Gedankenexperiment eingeladen. Sie sollten sich eine 43-jährige Person vorstellen, die ohne Sex lebt. Da öffnete sich so manche Schublade an Vorbehalten, Klischees und Abwertungen. Männer ohne Freunde in Kellerwohnungen voller leerer Pizza-Kartons und vielen Stunden im Internet oder Frauen mit vielen Katzen, die immer noch bei ihrer Mutter leben. Auch diese Lebensweisen sind völlig in Ordnung, nur die Allgemeinheit interpretiert Schrulligkeit, Merkwürdigkeit und Absonderlichkeit hinein.

Also ist es okay und normal, keine Lust auf Sex zu haben?

Plaßmann Absolut. Die Lust ist mal da und mal nicht, man kann sie nicht erzwingen. Je mehr wir darauf lauern, in Stimmung zu kommen, umso weniger geschieht es. Sex soll gewollt sein. Wir als Beteiligte wollen ja auch gewollt werden. Und wenn wir nicht wollen, sollten wir Sex lassen. Ganz gleich, ob eine Woche, ein Jahr oder immer. Wir müssen uns frei für oder gegen Sex mit einem Partner entscheiden können. Wo bliebe sonst die Freiheit?

Suggeriert uns unser Umfeld, dass wir immer Lust auf Sex haben müssen?

Plaßmann Ein reges Sexleben ist inzwischen eine Image-Frage. Mir fällt immer wieder auf, wie viel Sex Content uns angeboten wird. Da gibt es die direkten Angebote in der Werbung oder den sozialen Medien. In meiner Stamm-Drogerie gibt es sogar Dildos kurz vor der Kasse. Nichtmal eine schlichte Teeniekomödie kommt ohne Sex aus. Lipgloss-feuchte, leicht geöffnete Lippen als Anlehnung an Oralsex, schweißglänzende Schenkel an anderer Stelle. Im Kontrast dazu spricht niemand über Sexlosigkeit, Lustlosigkeit, Bocklosigkeit. Die Welt um mich herum zeigt ein falsches Bild. Denn privat denke ich gar nicht so oft an Sex. An manchen Tagen gar nicht. Und das sind nicht zwingend schlechte Tage.

Aber was tun, wenn der eine viel Sex möchte und der andere gar keinen?

Plaßmann Es gibt kein Anrecht auf Sex in einer Beziehung, aber ebenso wenig gibt es ein Anrecht auf eine sexfreie Beziehung. Das ist Verhandlungssache. Wenn der fehlende Sex zum Problem wird, ist es wichtig, miteinander zu sprechen. Manche finden schon die Vorstellung des Gesprächs angsteinflößend. Sie vermeiden es, ziehen sich zurück und weichen aus. Das ist normal. Zunächst geht es darum, ehrlich zu sich und zum anderen zu sein, um eine bessere Lösung zu finden, als die üblichen Beschwichtigungsstrategien, wie „wenn endlich Urlaub ist“. Viele hoffen auf die Wirkung neuer Sextoys oder trinken sich in Stimmung oder schmerzfrei. Aber damit ist die eigentliche Herausforderung nicht bewältigt.

Welche Reaktionen sind üblich, wenn man sich für eine sexuelle Abstinenz entscheidet?

Plaßmann In einer klassischen Beziehung schwankt der begehrende Partner meist zwischen einem Nichtwahrhabenwollen und kompletter Hilflosigkeit. Es ist ja eher ungewöhnlich, wenn ein Partner den gemeinsamen Sex rigoros streichen möchte. Statt dessen haben Unwillige oft das Gefühl, dem anderen Liebesdienste schuldig zu sein. Geschlechtsgemeinschaft in einer Ehe wird ja diffus im Gesetzt formuliert. „Das war schon immer so, Männer haben ihren Trieb, also muss man sie lassen“, so denken immer noch sehr viele Menschen.

Wie wirkt sich Sexlosigkeit auf Beziehungen aus?

Plaßmann Sex ist für viele der Einsatz, eine exklusive Beziehung zu führen. Und wenn der Sex als Schutzmaßnahme zur Absicherung fehlt, wird es heikel. Es fehlt die sexuelle Bindung, die kompensiert werden muss. Entweder durch Hobbys, intellektuell oder durch ein gemeinsames Umfeld. Oder indem wir uns unentbehrlich machen durch Fürsorglichkeit oder durch negative Aussagen wie „niemand sonst wird dich wollen“. Da sind eine Menge Verlustängste im Spiel. Und dann stellen sich beängstigende Fragen: Muss ich meinen Partner zum Sex mit anderen freigeben? Oder wird er mich betrügen und irgendwann verlassen, weil da jemand ist, der Zuneigung, gemeinsame Interessen und Sex bietet?

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von Gnadensex, also Sex dem anderen zuliebe. Schadet er mehr als dass er nützt?

Plaßmann Oft führen falsche Motive zur Bereitschaft mitzumachen, zum Beispiel Schuldgefühle, wenn der begehrende Partner den anderen vor Augen führt, wie lange das letzte Mal schon her war. Das schlechte Gewissen kneift und man macht dann doch mit. Oder weil man keine Lust hat auf den Streit, der entstehen könnte, wenn man ehrlich ist und nein sagt. Beim Gnadensex fehlt das Begehren. Augen zu und durch lautet die Parole. Während der eine bekommt, was er will, macht der andere einfach mit, manchmal mit einem Anflug von Groll. Was das Gegenüber beim Gnadensex nicht bekommt, ist das Gewollt-Sein. Das macht mit der Zeit unsicher und hilflos, was außen dann wie Ärger ausschaut. Bin ich nicht attraktiv genug?, fragt sich das Gegenüber oft. Und ja: Auch das kann auch mal der Grund sein, obwohl er selten vorkommt. Es gibt zig andere mögliche Gründe. Schade, dass darüber noch nicht öffentlich gesprochen wird, denn es ist höchste Zeit, dass wir uns selbst auch mit Respekt behandeln.

Foto: Thomas Faust

Laufen Beziehungen besser, in denen nur freiwilliger Sex gehabt wird, auf den beide Lust haben?

Plaßmann Ich gehe davon aus. Wenn wir uns auch klar machen, dass wir mittendrin aufhören können ohne den anderen zu kränken oder schlechte Stimmung auslösen, werden sich viele Menschen auf Versuche einlassen, die sie ansonsten kategorisch abgelehnt hätten. Probieren geht über studieren.

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