Kriegskinder aus NRW erinnern sich „Die alten Bilder sind wieder da“

Neuss/Köln/Bonn · Putins Angriff auf die Ukraine löst viele Ängste aus. Besonders aufwühlend sind die Bilder für ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterleben mussten. Wir haben mit denen, die damals Kinder waren, über ihre Erinnerungen gesprochen.

Ein kleines Mädchen auf der Flucht während des Zweiten Weltkriegs (aus der ARD-Doku „Kriegskinder“).

Ein kleines Mädchen auf der Flucht während des Zweiten Weltkriegs (aus der ARD-Doku „Kriegskinder“).

Foto: ard

Sie wurden in den 1930er-Jahren geboren, und ihre Kindheit endete jäh mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Bombenangriffe, Vertreibung, Hunger, Angst und Verlust – die Kriegskinder von damals werden durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine und die Bilder der flüchtenden Menschen daran erinnert, was sie selbst erlebt haben. Drei Frauen und ein Mann aus Nordrhein-Westfalen erzählen in Ich-Protokollen, was sie in diesen Tagen bewegt.

Eleonore Hillebrand, 87 Jahre, aus Neuss

 „Es ist furchtbar, was in der Ukraine passiert. Ich kann sehr gut nachfühlen, wie es den Menschen geht – auch, weil bei mir selbst schreckliche Erinnerungen hochkommen. Vor allem, wenn ich Detonationen höre und Feuer sehe. Die ganzen alten Bilder sind wieder da.

Eleonore Hillebrand, 87 Jahre, aus Neuss, erinnert sich noch gut an den Zweiten Weltkrieg.

Eleonore Hillebrand, 87 Jahre, aus Neuss, erinnert sich noch gut an den Zweiten Weltkrieg.

Foto: Andreas Woitschützke

Ich war neun Jahre alt, als Rees, wo wir damals lebten, 1945 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ich erinnere mich an die ‚Christbäume‘ am Himmel. So sah es aus, wenn Beleuchtermaschinen die Ziele für die Bomber markierten. Meine Mutter, meine kleine Schwester und ich standen dann in der Tür und haben in den Nachthimmel geschaut. Wenn wir die Christbäume gesehen haben, wussten wir: Jetzt geht’s gleich wieder los. In unserem Keller stand das Hochwasser und wir konnten uns bei einem Bombenangriff nur im Flur zusammenkauern. 

Ich erinnere mich auch noch gut an ein merkwürdiges Klatschgeräusch, das ich noch nie gehört hatte. Wie sich herausstellte, waren es die Bomben, die in den Rhein fielen. In der zweiten Nacht der Bombardierung sprang bei uns die Haustür auf und ich sah einen Feuerregen, der runterging. Alles ging blitzschnell und verschwand wie im Spuk wieder. Nur ein grauenvolles Sekundenbild bleibt für immer in meinem Gedächtnis. Für einen Moment hatte ich durch den nachlassenden Feuerregen hindurch eine Nachbarin, Mutters Näherin, schreiend und schwer verletzt vorbeilaufen sehen.

In Rees konnten wir nicht mehr bleiben. Meine Mutter hatte uns Rucksäcke genäht aus Küchenhandtüchern mit Rollladenbändern zum Schultern. Wir durften jede eine Puppe mitnehmen. Zuerst kamen wir bei einer Tante unter, dann auf einem Bauernhof in Hildesheim.

Später, als wir wieder zurück nach Hause an den Niederrhein wollten, und durchs Ruhrgebiet kamen, sahen wir das ganze Ausmaß der Zerstörung. Einmal sah ich eine Straße, die sich wie eine Hebebrücke schräg in den Himmel gestellt zu haben schien.

Mit tut das alles in der Seele leid für die Menschen in der Ukraine. Mit meinen 87 Jahren kann ich gerade leider nicht mehr tun als spenden.“

Gertrud Drack, 92 Jahre, aus Köln

 „Ich schaue mir seit Tagen alles im Fernsehen an, was über die Ukraine berichtet wird. Manchmal schalte ich schon morgens um 6 ein. Eigentlich will ich es gar nicht alles sehen, aber es zieht mich immer zu den neuesten Nachrichten, ich will ja wissen, wie alles weitergeht.

Gertrud Drack, 92 Jahre, aus Köln.

Gertrud Drack, 92 Jahre, aus Köln.

Foto: RPO/Drack

Es kommen viele Erinnerungen hoch. Wenn ich die Kinder in den U-Bahn-Schächten und Kellern sehe, denk ich auch an uns, wie wir als Kinder da lagen in der Schule, als die Russen mit Bomben übers Gebäude flogen. Wir lebten damals in Prechlau, einem Dorf in Pommern. Ich hatte zehn Geschwister. Zu sechst sind wir mit meiner Mutter geflüchtet. Die älteren Geschwister waren schon weg, ein Bruder und mein Vater waren im Krieg. In einem Güterwagen mit Hunderten anderen Menschen sind wir nach Thüringen geflohen. Es war kein herzlicher Empfang, man beschimpfte uns als „Pimocke“. Es hieß immer: Was wollt ihr hier?

Wir kamen bei einem Bauern unter, aber meine Mutter musste betteln gehen für ein paar Kartoffeln, damit wir eine Suppe kochen konnten. Für sie war es sehr schwer. Die Schweine hatten manchmal besseres Essen als wir. Meine Schwester und ich haben Arbeit gefunden in einer Porzellanfabrik und sind 1950 zusammen nach Köln gegangen. Hier lebe ich immer noch. In den letzten Nächten bin ich aufgewacht und dachte, ich bin im Bunker. Es kommt vieles wieder hoch. Der Krieg ist eine Katastrophe.“

Jutta Zimmermann, 88 Jahre, aus Bonn

„Ich habe sechs Kinder großgezogen in einer friedlichen Zeit, dafür bin ich sehr dankbar. Welches Glück die Abwesenheit von Krieg bedeutet, wurde mir noch einmal bewusst, als die Bilder vom Überfall auf die Ukraine im Fernsehen liefen. Ich bin zutiefst erschrocken, weil ich solche Zerstörungen noch mit eigenen Augen gesehen und einen Bombenangriff auf unser Haus in Leipzig selbst nur mit Glück überlebt habe.

Jutta Zimmermann, 88 Jahre alt, aus Bonn

Jutta Zimmermann, 88 Jahre alt, aus Bonn

Foto: privat

Die Erinnerung an diese Zeit ist sehr wach. Wir hungerten. Manchmal gab es eine Scheibe Brot für drei Leute. Meine Eltern, mein Bruder und ich sind dann nach Radebeul bei Dresden gezogen, wenig später kamen die Russen. Furchteinflößende Mongolen mit aufgepflanzten Bajonetten bedeuteten uns, das Wohnhaus innerhalb von 30 Minuten zu verlassen. Meine Mutter sagte resolut: „60 Minuten!“ Wir mussten ja noch den Leiterwagen von der Großmutter holen. In Windeseile konnten wir nur die wichtigsten Sachen und Unterlagen einpacken.

Später gelang es meinem Vater, der Branddirektor in Dresden war, unsere Möbel herauszuholen. Danach kamen wilde Gesellen ins Haus. Sie warfen alles, was sie nicht brauchten, die Kellertreppe hinunter. Ein Milchkännchen aus Meissner Porzellan habe ich auf dieser Treppe irgendwann gefunden. Es gehörte nicht zu unserem Familienbesitz und konnte nicht mehr zugeordnet werden. Die Russen hatten es achtlos weggeworfen. Das Kännchen konnte ich retten, es steht noch heute in meinem Wohnzimmerschrank.“

Werner Schell, 82 Jahre, aus Neuss

„Der Krieg in der Ukraine hat bei mir Wut und Hilflosigkeit ausgelöst. Dieser Angriffskrieg war aber trotz umfänglicher diplomatischer Bemühungen nicht zu verhindern. Und Putin wird wohl nicht haltmachen und die gesamte Ukraine einnehmen. Es ist eine Katastrophe.

Was ich als Kind erlebt habe, kommt nun wieder hoch. Ich war fünf Jahre alt, als wir mit unseren Eltern 1944 aus Angst vor Fliegerangriffen zu den Großeltern aufs Land flüchteten. Vorübergehend, dachten wir. Aber die Bomber leisteten in Aachen ganze Arbeit. Das durch den Bombenhagel hell erleuchtete Aachen, aus der Ferne betrachtet, ist mir bis heute in Erinnerung. Auch unser Haus und alles, was darin war, wurde komplett zerstört. Wären wir geblieben, hätte das tödliche Folgen für uns gehabt.

 Werner Schell aus Neuss, 82 Jahre alt.

Werner Schell aus Neuss, 82 Jahre alt.

Foto: Andreas Woitschützke

Bei meinen Großeltern in Stolberg waren die Amerikaner schon weitgehend Herr der Lage und kämpften nur noch mit einigen deutschen Stellungen. Wir mussten immer wieder zum Schutz in den Kohlenkeller. Als die Kämpfe heftiger wurden, mussten wir mit dem, was wir tragen konnten, zu Fuß fliehen. Beim Aufbruch sah ich die ersten Toten. Es waren zwei amerikanische Soldaten.

Es folgten harte Zeiten. Ich erinnere mich an Hunger, Maisbrot und Schulspeisungen. All die frühen Kindheitserinnerungen sind wieder da, wenn ich die flüchtenden Frauen mit ihren Kindern sehe. Die breite Unterstützung der Flüchtlinge kann ich daher nur begrüßen. Natürlich wünschen wir uns alle ein Ende der Kämpfe und Frieden. Aber dieser wahnsinnige Putin wird wohl vollendete Tatsachen schaffen.“

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