NRW Schulstunde dauert 70 Minuten

NRW · Immer mehr Schulen schaffen die 45-Minuten-Unterrichtsstunde ab – zugunsten von Einheiten, die 60 bis 70 Minuten dauern. Das "Turbo-Abitur" nach zwölf Jahren erzwingt die Umorganisation. Auch Wissenschaftler empfehlen eine Reform der Schulstunden-Taktung.

 Bei den Lehrern in NRW handelt es sich zum allergrößten Teil um Beamte.

Bei den Lehrern in NRW handelt es sich zum allergrößten Teil um Beamte.

Foto: ddp

Immer mehr Schulen schaffen die 45-Minuten-Unterrichtsstunde ab — zugunsten von Einheiten, die 60 bis 70 Minuten dauern. Das "Turbo-Abitur" nach zwölf Jahren erzwingt die Umorganisation. Auch Wissenschaftler empfehlen eine Reform der Schulstunden-Taktung.

Eine Ära geht zu Ende: 1911 hatten die Preußen die 45-Minuten-Schulstunde eingeführt. Nun wird an immer mehr Schulen 60 und mehr Minuten am Stück unterrichtet. Nachdem die neue Unterrichtsdauer anfangs vor allem an Ganztagsschulen eingeführt worden war, schaffen in Nordrhein-Westfalen nun auch immer mehr Gymnasien die alte preußische Zeiteinheit für den Unterricht ab.

Das Julius-Stursberg-Gymnasium in Neukirchen-Vluyn gehört zu den weiterführenden Schulen, die sich zu einer Verlängerung der Unterrichtseinheiten entschlossen haben — auch unter dem Druck der auf acht Jahre verkürzten Abiturzeit (G8-Abitur). Die ersten Erfahrungswerte sind durchaus positiv. "Seitdem ist viel mehr Ruhe in den Tag eingekehrt", sagt Direktor Siegfried Reimers. Zuvor hätten die Schüler im Extremfall acht verschiedene Fächer an einem Schulvormittag gehabt. "Es ist fast nicht zumutbar, sich auf so viele Fächer pro Tag einzustellen", meint der Schulleiter in Neukirchen-Vluyn.

Bei 45 Minuten Unterricht, so rechnet er vor, habe man als Lehrer im Höchstfall 30 bis 35 Minuten für den Stoff, wenn man die für Regularien wie Hausaufgaben notwendige Zeit abziehe. Um Stoff durchzuziehen, müsse der Lehrer oft auf Frontalunterricht setzen: der Lehrer doziert; die Schüler hören zu. "Das entspricht jedoch nicht der modernen Auffassung von Unterricht", sagt Siegfried Reimers. Auch die Pausen zwischen den Stunden wurden am Julius-Stursberg-Gymnasium verlängert — auf zehn und 20 Minuten. "So haben auch die Lehrer eine Chance, einmal Luft zu holen", sagt der Schulleiter.

Zahlreiche Vorteile haben die verlängerten Unterrichtseinheiten auch am Euregio-Gymnasium in Bocholt mit sich gebracht. Nach Ansicht von Schulleiter Christoph Schultheiß machen sie neue Unterrichtsmethoden möglich, die verhindern, dass sich ein Schüler zurückzieht, wie es beim Frontalunterricht zu beobachten sei. Zudem würde das selbstständige Lernen der Schüler gefördert. "Und wer sagt eigentlich, dass es sich in 45 Minuten leichter lernen lässt?", fragt Christoph Schultheiß.

Der Pädagoge sieht in der Neuerung zudem noch einen "ganz praktischen Effekt" vor allem für die jungen Schüler. Da mit den längeren Unterrichtszeiten sich die Zahl der täglich auf dem Stundenplan stehenden Fächer reduziere, sei ihr Schulranzen nicht mehr so schwer wie früher. Statt bislang Bücher und Hefte für sieben oder acht Fächer müssten nun nur noch solche für fünf oder sechs darin umhergeschleppt werden.

Längst sind die Schulen in Bocholt und Neukirchen-Vluyn, aber auch die in Korschenbroich und Willich, wo die Unterrichtseinheiten ebenfalls verlängert worden sind, gefragte Anschauungsobjekte. "Wir haben fast jede Woche Anfragen von anderen Schulen aus Nordrhein-Westfalen, ob sich Kollegen bei uns informieren könnten", sagt Wolfgang Lieser, Vize-Schulleiter des Gymnasiums in Korschenbroich.

An seiner Schule wechselt die Länge einer Unterrichtseinheit zwischen 65 und 70 Minuten — ein Mischmodell. Auch die Direktoren der Krefelder Gymnasien diskutieren mittlerweile neue Schulstunden-Modelle. Professor Wolfgang Böttcher, Erziehungswissenschaftler an der Universität Münster, hat mit seinem Studenten die 60-Minuten-Unterrichtseinheit auch auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt und betroffene Schüler und Lehrer befragt. Das Ergebnis fiel so positiv aus, dass der Wissenschaftler sich nun als "absoluten Befürworter" der Neuregelung bezeichnet.

Für Böttcher war die Zeit-Debatte mehr als überfällig und nur der Beginn einer grundsätzlichen Debatte über die deutsche Schulstruktur. Die Schule von heute lasse sich mit einer alten Fabrik vergleichen, an der am Fließband produziert wird — in einem flotten Takt, an dem der Schüler nicht mitarbeiten kann", meint der Erziehungswissenschaftler. 60 Minuten hingegen ließen neue Unterrichtskonzepte und mehr Mitarbeit der Schüler zu. "Die einzige Gefahr sind unkooperative Lehrer, die ihren 45-Minuten-Schulstoff auf eine Stunde ausdehnen", so Böttcher.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort