Schulleiterin zu Lesekompetenz von Grundschülern „Viele Eltern lesen selbst nicht mehr so viel“

Dortmund · Andrea Heil leitet die Comenius-Grundschule in Dortmund und ist Mitglied des Verbandes für Bildung und Erziehung (VBE) NRW. Dass Grundschüler nicht richtig lesen können, liege an der Politik, sagt sie – aber auch daran, dass zu Hause weniger vorgelesen werde als früher. Ein Bericht aus der Praxis.

Viele Eltern lesen ihren Kindern nicht mehr vor. Das kann in Schulen nur bedingt aufgefangen werden.

Viele Eltern lesen ihren Kindern nicht mehr vor. Das kann in Schulen nur bedingt aufgefangen werden.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

„Die Iglu-Studie zeigt die eklatante Verschlechterung der Grundschulkinder im Bereich der Lesekompetenz, was wir auch in der Praxis an ganz vielen Stellen merken. Seit vielen Jahren schon ist ein Abwärtstrend zu beobachten, was mit vielen verschiedenen Faktoren zu tun hat. Da ist zum einen natürlich der schulische Aspekt mit dem akuten Fachkräfte- und Ressourcenmangel. Aber es ist eben auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, dem die Politik nur Herr werden kann, indem sie genau da ansetzt, während sie gleichzeitig die Schulen stärken muss. Wir wissen, dass Lesen auch immer mit Emotionen verbunden ist. Diese Emotionen müssen positiv geprägt sein, etwa durch das Vorlesen im Elternhaus, durch Kuschelzeit und eine gute Zeit mit den Eltern. Heute schaffen es viele Eltern zeitlich nicht mehr, ihren Kindern vorzulesen. Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass immer mehr Eltern voll berufstätig sind, dass die Welt schnelllebiger geworden ist und deshalb auch oft die Zeit fürs Vorlesen nicht mehr da ist.

Kinder bedürfen einer ganz individuellen und breit gefächerten Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ist die Heterogenität in der Schülerschaft aber immer größer geworden. Ein Problem ist die Klassen- oder im Kindergarten die Gruppengröße. Die Kinder sind auf einem sehr unterschiedlichen Lernstand. Weil die Klassen aber sehr groß sind, kann die Lehrkraft oft gar nicht so individuell auf die Kinder eingehen, wie sie es gerne täte und diese es bräuchten. Wenn es denn überhaupt eine studierte Lehrkraft ist, denn auch das ist heute nicht mehr immer gegeben. Wir bräuchten viel mehr Zeit, viel mehr Räume für eine Unterstützung in Kleingruppen und wir bräuchten auch wieder mehr ausgebildete Lehrkräfte, übrigens nicht nur für Deutsch, sondern für alle Fächer. Nur so kann man den Kindern gerecht werden.

Hinzu kommt die weitere Aufgabe für die Lehrkräfte, die Sprachvielfalt der Kinder mit Zuwanderungshintergrund, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, für die Lernentwicklung zu nutzen. Die Spracharmut nimmt im Übrigen aber auch bei Kindern zu, die Deutsch als Herkunftssprache haben. Da fehlt oft ganz viel Unterstützung, teilweise von den Eltern, aber auch von der Politik. Es bräuchte mehr Mittel in der familiären Begleitung, aber auch im vorschulischen Bereich, also in den Kindergärten. Auch hier ist der Fachkräftemangel mehr als spürbar.

Die Schulen machen sich oft selbst auf den Weg, weil die Probleme eben nicht neu sind. Sie haben eine sehr hohe Fachkompetenz und wissen, was nötig ist. Sie brauchen aber die personellen und finanziellen Mittel, um das auch leisten zu können. Die Methoden, wie man als Lehrkraft Kindern Lesen beibringt, sind bekannt. Uns fehlen schlichtweg die Ressourcen, um jedem Kind so gerecht zu werden, wie wir es gerne wollen. Wir beklagen das seit Jahren und gehen in den Schulen eigene Wege, aber das reicht eben nicht aus. Die Schulen helfen sich selbst, es gibt zum Beispiel Projekte mit Ehrenamtlichen, die den Kindern vorlesen oder die Kinder mit besonderem Bedarf Einzellesestunden außerhalb der Unterrichtszeiten geben. Auch Eltern oder Großeltern helfen in Schulen aus. An meiner Schule halten sie zum Beispiel den Büchereibetrieb am Laufen, sodass die Kinder nicht die Neugier an Büchern verlieren.

Denn auch das spürt man, viele Eltern lesen selbst nicht mehr so viel. Lesen ist in der Lernphase anstrengend, man muss sich konzentrieren, sich Zeit nehmen und bewusst Text verstehen. Alles was mit Lernen zu tun hat, ist mit Anstrengung und Anstrengungsbereitschaft verbunden und die entwickelt man nur durch Freude. Wenn Eltern selbst keine Freude mehr am Lesen haben, dann ist es schwierig, das Kindern zu vermitteln und als Vorbild zu dienen.

Da werden auch die jetzt beworbenen Materialien des Ministeriums nichts ändern. Es kann bestimmt, gerade für Schulen mit wenig ausgebildeten Lehrkräften, gut sein, diese Materialien noch einmal ins Gedächtnis zu rufen und hier Unterstützungsmöglichkeiten zu schaffen. Aber alle Schulen im Gleichklang zu fahren, ist überhaupt nicht das, was wir aus der Praxis für nötig halten. Es braucht individuelle Begleitung. Ich frage mich auch, wie man die vorgeschriebenen dreimal 20 Minuten pro Woche in den Unterricht integrieren soll, wenn überhaupt nicht die Ressourcen dafür da sind. Die Pläne sind unrealistisch und an der Praxis vorbei, da sind wir in vielen Schulen schon weiter. Wir schauen auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes, erstellen eine Diagnose und entwickeln dann einen ebenso individuellen Förderplan. Da hilft uns eine gleichschrittige Methode nicht weiter. Wichtiger wäre es bestimmt, die Personen, die das Lehramt nicht studiert haben und täglich in der Klasse stehen und das Fach Deutsch unterrichten, hierfür auch gut zu qualifizieren.

Auch die Sprachstandserhebung vor Schulantritt, Delfin 4, für Kinder, die den Kindergarten nicht besucht haben, zeigt, welche Fehler die Politik hier macht. Die vierjährigen Kinder werden zur Beurteilung des Sprachstands geprüft und im Falle eines Rückstandes wird dann eine Förderung empfohlen, aber häufig passiert dies eben nicht. Die eigentlich daran anknüpfende Sprachförderung wird meistens überhaupt nicht erteilt. Wenn die Eltern nicht selbst hinterher sind und keine weiteren Auflagen erfolgen, dann ändert sich an der Sprachkompetenz bis zum Schulantritt nichts. Auch das liegt zum einen am Fachkräftemangel, aber eben auch an systemischen Fehlern.“


Aufgezeichnet von Lilli Stegner

(lils)
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