Prozess um Missbrauchsfall Wermelskirchen Der Babysitter klingelte, die Eltern ahnten nichts

Köln · Er soll als Babysitter Zugang zu Familien und kleinen Kindern gefunden und viele von ihnen über Jahre schwer sexuell missbraucht haben. Vor dem Landgericht Köln startete nun der Prozess gegen einen 45-Jährigen aus Wermelskirchen.

 Im Prozess um den Missbrauchskomplex von Wermelskirchen hat der Angeklagte über seinen Verteidiger Christian Lange die Taten eingeräumt.

Im Prozess um den Missbrauchskomplex von Wermelskirchen hat der Angeklagte über seinen Verteidiger Christian Lange die Taten eingeräumt.

Foto: dpa/Oliver Berg

Als Marcus R. sich im Januar 2019 in einen Videochat schaltet, in dem ein Mann aus Berlin live einen weinenden Jungen sexuell missbraucht, schreibt R. dem Täter: „Das gehört dazu.“ Er bestärkt ihn, weiterzumachen. Vorher hatte er ihn angewiesen, eine professionelle Kamera und ein Stativ mit zu dem Jungen zu nehmen. Marcus R. soll zu diesem Zeitpunkt schon seit 14 Jahren Mädchen und Jungen sexuell missbraucht haben.

Seit Dienstag steht der 45-Jährige in Köln vor Gericht. Es ist der erste Prozess im Tatkomplex Wermelskirchen, wo der Angeklagte bis zu seiner Festnahme mit seiner Ehefrau gelebt hat. R. trägt Sonnenbrille und hat eine Kapuze in die Stirn gezogen, als er von zwei Justizwachtmeistern in den Gerichtssaal gebracht wird. Nachdem Kamerateams und Fotografen den Raum verlassen haben, zeigt er sein Gesicht. R. wirkt jünger als er ist. Dunkelblond, randlose Brille, schmale Statur. Ein unauffälliger Typ. Während zwei Staatsanwältinnen im Wechsel die umfangreiche Anklage verlesen, sitzt R. da mit durchgedrücktem Rücken und liest mit, Seite für Seite. Es dauert fast zwei Stunden, bis insgesamt 122 Fälle geschildert sind. Die Anklage geht davon aus, dass R. in den Jahren 2005 bis 2019 mehr als 20 Kinder missbraucht hat. In 99 Fällen geht es um Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs. Andere drehen sich um Beihilfe zum Missbrauch oder um das Filmen des Missbrauchs.

Es geht um Kinder, die noch sehr jung waren, ein Mädchen war gerade mal vier Wochen alt. Andere waren geistig und körperlich behindert, ein Junge saß im Rollstuhl, halbseitig gelähmt und nicht in der Lage, den Täter irgendwie abzuwehren. R. hatte sie alle als Babysitter kennengelernt, er bot sich auf Betreuungsportalen an und wurde von manchen Paaren oder alleinerziehenden Müttern über mehrere Jahre immer wieder gebucht und freundlich empfangen – nicht ahnend, dass ihr Babysitter Sexspielzeug, Gleitgel, Beruhigungs- und Schlafmittel und manchmal auch Klebeband dabei hatte. Tatorte waren Wohnungen in ganz Nordrhein-Westfalen – Köln, Solingen, Wuppertal, Bergisch Gladbach oder Rösrath. Die Kinder sollen unter anderem in ihren Schlafzimmern missbraucht worden sein, manche schlafend oder sediert, andere waren noch so klein, dass sie nur durch Wegkrabbeln versuchen konnten, dem Täter zu entkommen. R. soll sich in mindestens einem Fall gleich bei seinem ersten Abend in der elterlichen Wohnung an einem Kind vergangen haben. Skrupel oder Sorge, entdeckt zu werden, scheint er zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr gehabt zu haben. In einem Fall kamen die Eltern offenbar früher als geplant zurück – die Taten blieben trotzdem zunächst unentdeckt. Auch die kleine Tochter einer Verwandten gehört laut Anklage zu den Opfern. R. soll die Kinder nicht nur auf alle möglichen Arten missbraucht, er soll viele von ihnen auch besonders erniedrigt haben. Er soll zudem in den Missbrauchsfall Münster verwickelt gewesen sein. Tatort war hier eine Laube in einem Schrebergarten. R. soll einen weiteren Täter auch in diesem Fall per Videochat zum Missbrauch eines Jungen angeleitet haben.

Über seinen Verteidiger Christian Lange räumt R. am ersten Prozesstag alle Vorwürfe ein. „Er will bei der Aufklärung helfen“, sagt der Anwalt. So habe R. etwa den Ermittlern ermöglicht, unter seinem Pseudonym im Darknet auf einschlägigen Plattformen weiter zu agieren, um andere Täter identifizieren zu können. Lange nimmt auch Bezug auf die Millionen Bilder und Missbrauchsvideos, die bei R. entdeckt worden waren. „Er hat in einer blinden Datensammelwut alles gesammelt, was er bekommen konnte“, sagt der Anwalt. Die Unmengen seien nicht anders zu erklären.

Sein Mandant sei im Vorfeld vereinzelt als „Monster“ bezeichnet worden. „Wenn man nun diese umfassende Anklage gehört hat, dann war diese Bezeichnung vielleicht gar nicht so falsch“, sagt Lange. Die meisten Taten lägen aber lange zurück. „Wir möchten erreichen, dass das Gericht den Blick auch auf die heutige Situation richtet und das heutige Verhalten von Herrn R. genau betrachtet.“ Die Verteidigung gehe davon aus, „dass man dann zu der Überzeugung kommt, dass hier heute eine andere Persönlichkeit sitzt, die jedenfalls nicht mehr das Monster ist, das alle fürchten müssen.“

Für den Angeklagten steht Sicherungsverwahrung im Raum. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für einen gefährlichen Täter mit dem Hang zu weiteren Straftaten. Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. Dann will R. ein „umfassendes Geständnis“ ablegen, wie sein Verteidiger ankündigte.

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