Erschütternde Zahlen für NRW Häusliche Gewalt nimmt in der Pandemie zu

Exklusiv | Düsseldorf · In den Monaten des Lockdowns ist die Zahl der Fälle in NRW um 7,7 Prozent gestiegen. Die meisten Opfer sind weiblich. Und Experten befürchten ein großes Dunkelfeld.

 Einen Zufluchtsort finden Opfer häuslicher Gewalt in Frauenhäusern.

Einen Zufluchtsort finden Opfer häuslicher Gewalt in Frauenhäusern.

Foto: dpa

An mehr als jedem vierten Tag wurde ein Mensch in NRW Opfer eines Mord- oder Totschlagsversuchs im eigenen Zuhause. Dies geht aus einem Lagebild des NRW-Innenministeriums hervor, das unserer Redaktion vorab vorliegt. „Vielleicht sind es die räumliche Enge und die fehlende Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen – vielleicht auch der gestiegene Alkoholkonsum“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) über die Ursachen. Möglicherweise habe die Aggression während der Corona-Pandemie insgesamt zugenommen, oder Taten würden eher angezeigt. „Das müssen und werden wir genau im Auge behalten. Das Erfassen der Datenlage ist nur ein erster Schritt, um weitere Schritte zu unternehmen“, so Reul.

Der Bericht gibt erstmals Aufschluss über die Entwicklung häuslicher Gewalt in der Pandemie. Lange Zeit herrschte Rätselraten darüber, wie sich die Zahlen während des Lockdowns entwickelten, weil die Anzeigen zunächst sogar rückläufig waren. Das NRW-Innenministerium hat den Bereich der häuslichen Gewalt 2020 zum ersten Mal isoliert betrachtet und nicht wie bisher als Teil der Kriminalstatistik. Dabei wurde ausschließlich das sogenannte Hellfeld betrachtet – die Dunkelziffer ist aber gerade bei diesen Delikten hoch, weil viele nicht angezeigt werden. Auch wurden nur Fälle einbezogen, in denen Opfer und Tatverdächtige im gemeinsamen Haushalt leben – Ex-Partner blieben außen vor. Eine bundeseinheitliche Definition für häusliche Gewalt existiert bisher nicht.

Die familienpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Anja Butschkau, fordert seit Längerem, auch das Dunkelfeld häuslicher Gewalt auszuleuchten und gleichzeitig Informationskampagnen auf den Weg zu bringen: „Leider sind die vorhandenen Hilfsangebote den meisten Menschen in unserem Land nicht ausreichend bekannt.“ Die Grünen-Fraktion hatte schon zu Beginn der Pandemie auf einen drohenden Anstieg häuslicher Gewalt hingewiesen. Nicht für jede und jeden seien die eigenen vier Wände sichere Rückzugsorte, sagte Co-Grünen-Fraktionschefin Josefine Paul.

Am häufigsten kam es 2020 zu vorsätzlicher einfacher Körperverletzung (19.052 Fälle, entsprechend 65 Prozent), die mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. In etwa jedem siebten Fall häuslicher Gewalt ging es um gefährliche oder schwere Körperverletzung, die etwa mit Werkzeugen verübt wird.

Insgesamt waren 70 Prozent der Opfer weiblich, 30 Prozent männlich. Dazu Reul: „In NRW haben wir Ende 2018 im Polizeigesetz die Möglichkeit geschaffen, gewalttätige Partner bis zu zehn Tage in Gewahrsam zu nehmen. Auch das trägt dazu bei, Frauen besser vor Gewalt zu schützen.“ Zu berücksichtigen ist auch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie die Misshandlung von Schutzbefohlenen in die Häusliche-Gewalt-Statistik einfließen. In diesen Bereichen ist die Betroffenheit der Geschlechter unter den Opfern ausgeglichener.

Auffällig ist der starke Anstieg sexuellen Missbrauchs Jugendlicher im Jahr der Pandemie. Hier wurden 211 Prozent mehr Fälle angezeigt als noch im Vorjahr. Allerdings war hier die Gesamtzahl der angezeigten Fälle bisher sehr niedrig: 2019 waren es nur neun Fälle, ein Jahr später wurden 28 Fälle registriert. „Die Zahl der Ermittlungsverfahren im Bereich Kinderpornografie und Kindesmissbrauch in Nordrhein-Westfalen ist erheblich gestiegen“, bestätigte Reul. Es sei gelungen, Taten vom Dunkel- ins Hellfeld zu ziehen. Die Bürger seien jetzt sensibilisiert.

Bei einigen wenigen Delikten war dem Polizeibericht zufolge ein Rückgang zu verzeichnen. Die Fallzahlen von Mord und Totschlag sanken geringfügig von 92 auf 90, dies entspricht minus 2,2 Prozent. 29 Frauen und 15 Männer starben an den Folgen häuslicher Gewalt.

NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach (CDU) hatte vor einem Jahr zusätzlich 1,5 Millionen Euro für Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen aus dem NRW-Rettungsschirm zur Verfügung gestellt. Zum Vergleich: Der Rettungsschirm insgesamt hat in NRW ein Volumen von 25 Milliarden Euro.

Die größte Gefahr, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, geht vom Partner aus: 59,6 Prozent der Opfer lebten in einer Partnerschaft mit dem Täter. 33,3 Prozent der Opfer standen in einem anderweitigen Familienverhältnis zu ihm.

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