Problembezirk in Dortmund Nordstadt ist nicht gleich Nordstadt

Nach dem Angriff auf zwei Zivilpolizisten am Samstag fragen sich viele: Was ist los in der Dortmunder Nordstadt? Antwort: Kunst, Kultur und viel Kriminalität. Ein aktueller Reiseführer durch einen Problembezirk.

Das ist die Dortmunder Nordstadt 2017
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Das ist die Dortmunder Nordstadt 2017

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Foto: Magdalena Stengel

Die Diskussion um die Kriminalität in der Nordstadt entzündet sich an dem Vorfall, bei dem zwei Zivilpolizisten von drei jungen Männern am Samstagabend verprügelt wurden. Für viele ist das ein Zeichen, das in der Nordstadt nach wie vor das Gesetz der Straße gilt. Ein Überblick über Geografie und Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Bezirks.

  • Die Geografie: Vorsicht am Borsig!

Für Dortmunder ist sie einfach: "die Nordstadt". Offiziell heißt sie "Innenstadt Nord" - und reicht vom Hafen ganz im Westen bis zum riesigen Gelände der Westfalenhütte im Osten, der "Wiege der Hoesch AG".

Quer durch die Nordstadt führen die vierspurige Mallinckrodtstraße von Osten nach Westen, und von Süden nach Norden die Bornstraße. Wo "Malli" und Bornstraße sich kreuzen, ungefähr da liegt der berüchtigte Nordmarkt. Ungefähr da, wo die Mallinckrodtstraße zuende ist, liegt der Borsigplatz.

Die gute und die böse Nordstadt

"Vorsicht am Borsig" hat der Rapper "Der Wolf" mal einen Song genannt. Als Ur-Dortmunder, der seine Heimatstadt selbst in der kurzen Phase seiner Berühmtheit Ende der 1990er Jahre (damals, als "Oh Shit, Frau Schmidt" die Bravo-Charts erklomm) nie verlassen hat, weiß er, wovon er spricht.

Denn auch das sagt man in Dortmund: Es gibt eine "gute" und eine "böse" Nordstadt. Das Hafenviertel mit seinen alternativen Kultkneipen wie dem "Sissikingkong" oder dem "Subrosa" oder Kunststätten wie dem "Depot" - das ist die gute Nordstadt. Hier tummeln sich am Wochenende auch gern die braven Bewohner des Dortmunder Südens. Bornstraße, Nordmarkt, Borsig dagegen - da geht man besser nur in Begleitung hin, finden viele.

  1. Die Geschichte: Problemhäuser im Altbau

Dabei ist gerade der Borsigplatz Teil der stolzen Dortmunder Geschichte. Hier wurde immerhin der Ballspielverein Borussia gegründet. Und wenn man als Autofahrer in diesem großen, teils dreispurigen Kreisverkehr mit Straßenbahn mal Zeit hätte, sich umzuschauen, würde man tolle Gründerzeithäuser entdecken.

Sie stammen aus der Zeit, als die Hoesch-Werke und der Hafen entstanden und tausende Arbeiter in den Dortmunder Norden zogen. Man sagt, dass die Nordstadt das größte zusammenhängende Gebiet mit Altbauten im ganzen Ruhrgebiet ist.

Doch mit dem Strukturwandel starb die Industrie, und als sie ging, gingen auch die Arbeiter. Keiner wollte mehr in der Nordstadt wohnen. Außer die Gastarbeiter, die hier günstige Wohnungen fanden. Und ihre Gemüseläden, Imbisse und Bäckereien eröffneten. Wer in Dortmund gut marokkanisch essen will oder vernünftige Wassermelonen kaufen möchte, fährt gen Norden.

Straßenstrich hinterm Baumarkt

Bis 2011 fuhren manche Leute auch für andere dringliche Geschäfte in die Nordstadt. "Deine Mutter steht hinterm Hornbach", war ein geflügeltes Wort unter rustikaler erzogenen Dortmunder Schülern. Gemeint war die Ravensberger Straße hinter einem Baumarkt, die viele Jahre als Straßenstrich diente.

Dortmund 2011: Demo für den Straßenstrich
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Dortmund 2011: Demo für den Straßenstrich

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"Dadurch hatten wir natürlich Hunderte von illegalen Prostituierten in der Gegend", erinnert sich Polizeisprecher Gunnar Wortmann, der seit 2009 in Dortmund Dienst tut. "Und solche Kriminalität entwickelt eine Sogwirkung, es gab Menschenhandel, Drogendelikte - das war schon heftig."

Mit der Öffnung der EU nach Osten im Jahr 2007 entdeckten zudem Rumänen und Bulgaren die Nordstadt für sich. Sie prägen bis heute das Straßenbild. Ein großes Problem sind weiterhin die "Problemhäuser" - Schrottimmobilien, die skrupellose Vermieter billig kaufen, dann aber nicht in die Instandhaltung investieren, sondern stattdessen kleine Zimmer an viel zu viele Personen zu überhöhten Preisen vermieten. Über 80 gibt es in der Nordstadt, berichtete "Nordstadtblogger" Alexander Völkel im Dezember 2016.

  1. Die Gegenwart: Hohe Arbeitslosigkeit, viel Kriminalität

Immerhin: Das sind etwa 30 weniger als drei Jahre zuvor. "Mittlerweile übernehmen immer wieder vernünftige Leute diese Häuser", sagt der Journalist Völkel, der seit mehreren Jahren über die Nordstadt berichtet. "Auch viele Migranten, die hier aufgewachsen sind, investieren."

Trotzdem: Die Gegenwart der Nordstadt ist nicht allzu rosig. Das zeigt ein Blick in die Bevölkerungsstatistik. Von allen Innenstadtbezirken (Nord, West und Ost) wohnen hier anteilig die meisten Hartz-IV Empfänger (338 Personen pro 1000 Einwohner) und die meisten Arbeitslosen - ein knappes Viertel der Bevölkerung. Die Nordstadt ist arm.

Polizei-Schwerpunkt Nordstadt

Und sie ist kriminell. "Die Nordstadt ist ein Stadtteil, der ganz klar höher belastet ist als andere", sagt Polizeisprecher Wortmann. "Man kann das nicht kleinreden." Im Dezember 2016 gaben Polizei und Staatsanwaltschaft deshalb bekannt, ihre Kräfte "für mehr Sicherheit im Dortmunder Norden" bündeln zu wollen.

Inzwischen gibt es drei Staatsanwälte, die speziell für "Nordstadt-Kriminalität" - so der Wortlaut in der Pressemitteilung - zuständig sind. Außerdem gründete die Polizei eine eigene Ermittlungskommission. "Wir machen sehr viele Schwerpunkteinsätze", betont Sprecher Wortmann. "Wir arbeiten da richtig, richtig hart."

Die Polizei findet: Das bringt was. Wie sie im Dezember bekannt gab, sank die Gesamtkriminalität im Bereich der Polizeiwache Nord um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders groß seien die Rückgänge bei Straßenraub (minus 40 Prozent) und Taschendiebstahl (minus 28 Prozent). Wie hoch die absoluten Zahlen sind, gab die Behörde nicht bekannt.

No-Go-Area Nordstadt?

Gestritten werden kann trotz positiver Zahlen wunderbar über die Gefährlichkeit der Nordstadt. Nach einem Angriff auf zwei Polizisten im Oktober 2016 veranstaltete die CDU-Fraktion im Landtag eine Aktuelle Stunde mit dem Titel "Ausbreitung so genannter No-Go-Areas in Dortmund?" - immerhin mit Fragezeichen.

Sowohl Polizeisprecher Wortmann als auch Nordstadtblogger Alexander Völkel glauben nicht an die Existenz solcher No-Go-Areas. Beide verweisen darauf, dass Polizisten, um angegriffen zu werden, ja schließlich vor Ort sein müssen - rein logisch könne es sich also schon nicht um eine No-Go-Area handeln.

Rudelbildung auf der Mallinckrodtstraße

"Ich fühle mich hier nicht unsicher", sagt Alexander Völkel. "Gut, ich bin ein Mann. Aber wenn sich ein RTL2-Reporter hier auf den Nordmarkt stellt und sagt, ohne Polizeischutz hätte er sich das nicht getraut - dann ist das totaler Bullshit."

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Foto: dpa, pla

Auch Völkel kennt die typischen Nordstadtszenen: An der Ecke Schleswiger Straße/Mallinckrodtstraße steht eine Menschentraube. Hier vertreiben sich Männer die Zeit, bis jemand vorbeikommt und sie als Schwarzarbeiter anheuert. Hier laufen Kinder kreuz und quer durch die Gegend, und Frauen stehen in Gruppen und schwatzen. Passanten müssen sich mühsam ihren Weg bahnen und auch mal auf die Straße ausweichen.

"Ich kann mir auch was Schöneres vorstellen", sagt Völkel. "Aber das liegt eben an der prekären Wohnsituation: Diese Menschen wohnen auf so engem Raum, dass sie sich den ganzen Tag auf der Straße aufhalten müssen."

  1. Die Zukunft: Bunt und kreativ?

Nordstadtblogger Alexander Völkel sieht viele Beispiele für die Nordstadt, wie sie sein könnte. Schon heute haben hier viele Künstler ihre Ateliers. Vereine engagieren sich in ihren Quartieren. Nachbarn kommen zusammen - zum Beispiel beim Projekt Hofflohmärkte, bei denen Hausgemeinschaften aufgerufen waren, in ihren Innenhöfen an einem bestimmten Samstag Trödelmärkte zu veranstalten.

Zweimal jährlich laden sich Nordstadtbewohner gegenseitig zum "Nordstadtdinner" ein. In der Schüchtermannstraße gilt ein renovierter Jugendstil-Wohnblock sogar als Vorzeigeprojekt. Hier ziehen Menschen hin, weil sie es wollen - nicht weil sie es müssen. In der "Velo-Kitchen" im gleichen Block können sie sich treffen, um gemeinsam Fahrräder zu reparieren und zu kochen.

"Mich interessiert die Nordstadt, weil sie vielfältiger und spannender ist als viele andere Dortmunder Stadtteile", sagt Alexander Völkel. "Hier gibt es viele Probleme - aber auch viele Chancen."

(hpaw)
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