Umsiedlungen im Rheinischen Braunkohlerevier Kohle statt Heimat

Merzenich · Zwei Orte, ein Schicksal: Merzenich-Morschenich und Erkelenz-Keyenberg sind von den Umsiedlungen im Rheinischen Braunkohlerevier betroffen. Eine Geschichte über diejenigen, die ihre Heimat verlieren. Und dies völlig unterschiedlich bewerten.

 Bernd Servos (47, links) ist Mitglied im Bürgerrat und besucht Morschenicher wie Wilhelm Kaiser (86) oft. Der Umzug ist für sie beschlossene Sache.

Bernd Servos (47, links) ist Mitglied im Bürgerrat und besucht Morschenicher wie Wilhelm Kaiser (86) oft. Der Umzug ist für sie beschlossene Sache.

Foto: RP/Marie Ludwig

Eines Tages werden die Bagger kommen. Das weiß Bernd Servos schon, seit er sieben Jahre alt ist. Heute mit 47, steht der Braunkohle-Bagger des Tagebaus in rund einem Kilometer Luftlinie. Servos ist deshalb oft mit seiner Kamera in den Straßen Morschenichs, einem Ort der Gemeinde Merzenich, unterwegs – will alles festhalten: „Mein einjähriges Kind wird meine Heimat niemals kennenlernen“, sagt er und macht zur Sicherheit ein paar Fotos von dem Haus, in dem er einst lebte. Vor einigen Jahren hat er eine Dokumentation veröffentlicht – das Interesse war groß, die rund 480 Menschen, die einmal in Morschenich lebten, wollen eine Erinnerung. Inzwischen kehrt Servos in den Ort zurück, um den Verfall in Vorher-Nachher-Bildern festzuhalten.

Ein Geisterdorf, das ist Morschenich allerdings bei Weitem noch nicht: Die Kehrmaschine ächzt vorbei, der Postbote stellt Briefe zu, in der Tagesstätte johlen ein paar Kinder; es herrscht merkwürdige Normalität, wenn man bedenkt, dass bereits im kommenden Frühling die ersten Straßenzüge abgerissen werden sollen. „Dieses Haus ist bewohnt“, steht auf einem Zettel an einer Haustür – wie eine trotzige Erwiderung, auf die vom Holz bereits abblätternde Farbe. Die meisten jedoch hätten sich inzwischen damit abgefunden umzuziehen, erzählt Servos, der selbst bereits in Morschenich-Neu lebt.

Servos ist einer von rund 44.000 Menschen, die durch den Rheinischen Tagebau ihre Heimat verlassen mussten oder noch müssen. Seit den 1950er Jahren wird dort in drei großen Tagebauen Braunkohle durch den Energiekonzern RWE erschlossen: Garzweiler (11.400 Hektar), Hambach (8500 Hektar) und Inden (4500 Hektar). Damit entsprechen die genehmigten Flächen rund 34.174 Fußballfeldern. Die dafür nötigen Umsiedlungen wurden 1974 im NRW-Landtag unter einer Koalition zwischen SPD und FDP genehmigt. Dann – vor rund zwei Monaten – kamen die Proteste, bei denen 50.000 Menschen für den Erhalt des nahe gelegenen Hambacher Forstes demonstrierten. Und plötzlich ist da die Hoffnung, ob das alte Morschenich vielleicht doch bestehen bleiben könnte.

 Die Lage der drei Tagebaue Garzweiler, Inden und Hambach.

Die Lage der drei Tagebaue Garzweiler, Inden und Hambach.

Foto: RP/Marie Ludwig

„Das geht doch nicht!“, poltert Wilhelm Kaiser und schlägt mit seiner Fliegenklatsche auf die abwaschbare Tischdecke. Der 86-Jährige hat Haus und Hof in Morschenich. Er wartet nur noch darauf, dass der neue Stall für sein Pferd in Morschenich-Neu fertig wird, dann will er weg. Dass sich jetzt, unweit von seiner Haustüre entfernt, Menschen für den Erhalt eines Waldes einsetzen, der heute nur noch einen Bruchteil groß ist, findet er albern: „Vor 40 Jahren, ja, da hätte der Protest Sinn ergeben.“ Aber warum sich Demonstranten mehr für Bäume als für Menschen, die ihre Heimat verlieren, interessieren, ist ihm und vielen Nachbarn in Morschenich schleierhaft.

Der pensionierte Landwirt hat eine rekultivierte Fläche als Ersatz für sein verlorenes Land von RWE angeboten bekommen und für gut befunden. „Die von RWE haben ja nicht nur zerstört“, sagt Kaiser. Alles, was er jetzt wolle, sei mit der ganzen Sache abzuschließen. Den Grabstein seiner Frau hat er schon vom Friedhof abgeholt. Er liegt bei ihm im Hof. Doch nicht nur der Stein wird mit nach Morschenich-Neu umziehen. Auch die Verstorbenen wurden umgebettet. Die Heimat ist für immer verloren, da sollen wenigstens die Menschen mit, die man liebt.

Der Naturschutzverband BUND hat eine Liste der umgesiedelten Orte in NRW zusammengetragen, auf der rund 130 Ortschaften und Dörfer gelistet sind. Der Umsiedlungsablauf ist immer der Gleiche. Als erstes wählen die Umsiedler einen Sachverständigen aus, der das Eigentum bewertet. „Die Kosten für das Verkehrswertgutachten trägt RWE Power“, erklärt Olaf Winter, ein Sprecher von RWE.

 Für den Erhalt der mehr als 1300 Jahre alten Heilig-Kreuz-Kirche in Erkelenz-Keyenberg engagieren sich Ingo Bajerke (rechts), Yvonne Kremers (vorne links), Christine Jansen (Mitte vorne) und ihre Mitstreiter.

Für den Erhalt der mehr als 1300 Jahre alten Heilig-Kreuz-Kirche in Erkelenz-Keyenberg engagieren sich Ingo Bajerke (rechts), Yvonne Kremers (vorne links), Christine Jansen (Mitte vorne) und ihre Mitstreiter.

Foto: RP/Marie Ludwig

Anschließend werde den Besitzern ein Kaufangebot gemacht und die Möglichkeit gegeben, ein Ersatzgrundstück am Umsiedlungsort vorzumerken. „Bei der Vergabe der Grundstücke ist der Zeitpunkt der Wunschangabe ausdrücklich nicht das alleinige Entscheidungskriterium“, erklärt Winter. In die Vergabe würden neben den Vormerkungen auch Aspekte wie etwa der Wunsch nach Nachbargrundstücken mit bestehenden Nachbarn einfließen. „Dass man jedoch genau das, was man hatte, auch wieder bekommt, ist nicht immer der Fall“, erzählt Servos. Bauen sei heutzutage wesentlich teurer geworden.

Doch auch der mangelnde Platz kann zum Hindernis werden: Yvonne Kremers lebt im rund 38 Kilometer entfernten Erkelenz-Keyenberg und sucht verzweifelt nach einem Grundstück für ihre 20 Pferde. Auch Keyenberg ist eines der Dörfer, das den Baggern weichen soll. „Eigentlich sollte ich eine äquivalente Fläche für meine Tiere bekommen“, erzählt Kremers. Allerdings seien alle Grundstücke in Keyenberg-Neu zu klein: „Die Landwirtschaft hat einfach keinen Platz mehr.“

 „Dieses Haus ist bewohnt“, steht auf einem Schild an  einer Haustür in Morschenich.

„Dieses Haus ist bewohnt“, steht auf einem Schild an  einer Haustür in Morschenich.

Foto: RP/Marie Ludwig

Am Ort, der zur neuen Heimat werden soll, ist nicht nur kein Platz für Landwirte. „Auch unsere Gemeinde soll in eine Fertiggarage mit Religionshintergrund ziehen“, beschwert sich Ingo Bajerke (45). Er engagiert sich im Bündnis „Kirche im Dorf lassen“, das die Heilig-Kreuz-Kirche in Keyenberg vor den Braunkohlebaggern schützen will. Regelmäßig trifft sich das Bündnis in der rund 1300 Jahre alten Kirche. In großen Sammelmappen haben sie ihre Unterlagen gesammelt: Beschwerdebriefe, Stadtpläne, Ausarbeitungen zu alternativen Energienutzungsplänen und Anti-Kohle-Sticker. Alles aus den vergangenen 30 Jahren Engagement für den Erhalt der Heimat. Aufgeben? Das will hier keiner.

„Ich hasse die Frage: ‚Und, wie weit biste mit dem Umzug?’“, sagt Bajerke. Zustimmende Rufe hallen von den Kirchenwänden wider. Nur Christine Jansen sitzt schweigend in einer Kirchenbank. Die 82-Jährige versucht schon seit über 20 Jahren, ihr Dorf zu retten. „Ich möchte meine Heimat nicht verlieren. Das Zuhause meiner Kinder. Meinen Garten“, sagt sie mit brüchiger Stimme und blickt auf die Kniebank. In Keyenberg-Neu warte auf sie nur ein „kahler Acker“.

Beim Durchblättern seiner Fotodokumentation hat Bernd Servos festgestellt, dass 19 der rund 250 Abgebildeten in den vergangenen vier Jahren verstorben sind. Natürlich könnte es auch am hohen Durchschnittsalter der Dorfbewohner liegen. Doch Ingo Bajerke glaubt nicht daran. „Vor einem Jahr sagte mein Vater sagte zu mir: ‚Ich ziehe nicht mit. Ich ziehe unter die Erde‘“, erzählt er. Bereits wenige Tage später sei er gestorben.

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