Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach Die Akte Jörg L.

Exklusiv | Köln/Bergisch Gladbach · Im Sommer beginnt der Prozess gegen den Familienvater Jörg L., der als einer der Haupttäter im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach gilt. Der 43-Jährige soll seine kleine Tochter fast täglich sexuell missbraucht haben. Einblick in ein Doppelleben.

 (Symbolbild)

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Foto: Shutterstock/Zwiebackesser

Die Ermittler brauchen im Oktober vergangenen Jahres nur wenige Versuche, um das Passwort zu knacken, das Jörg L. für seine drei Mobiltelefone benutzt. Es ist das Geburtsdatum seiner Tochter Paula (Name geändert). Das Mädchen ist heute drei Jahre alt. „Meine Kleine“ und „der Zwerg“ soll Jörg L. sein Kind in den Chats genannt haben, die die Ermittler auf den Handys entdeckten. Es sind Chats, in denen er davon gesprochen haben soll, beim Sex mit seiner Frau an seine Tochter zu denken. In denen er sich gewünscht haben soll, dass seine Tochter irgendwann von einem gleichaltrigen Jungen entjungfert wird – und er dabei zusehen kann.

Wenn sich bestätigt, was die Kölner Staatsanwaltschaft dem 43-Jährigen aus Bergisch Gladbach vorwirft, dann lernt das Mädchen Paula erst jetzt eine normale Kindheit kennen. Ihr eigener Vater soll sie ab ihrem dritten Lebensmonat sexuell missbraucht haben, ab vergangenem Sommer fast täglich. Von seiner Ehefrau, der Familie und seinen Freunden unbemerkt – davon gehen die Ermittler derzeit aus – führte er offenbar seit langem ein Doppelleben. Fürsorglicher Vater und Kinderschänder. All das geht nach Informationen unserer Redaktion aus der mehr als 100-seitigen Anklageschrift hervor. Die Ermittler gehen bei Paula von einem Missbrauchszeitraum von zwei Jahren und drei Monaten aus.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem gelernten Koch und Hotelfachmann 79 Taten vor. In 61 Fällen soll er seine Tochter sexuell missbraucht haben, die meisten Taten stuft die Anklagebehörde als schwer ein. Es geht auch um Vergewaltigung und die Verabredung zu einem Verbrechen. Ein Mittäter, der Bundeswehrsoldat Bastian S., hat vor dem Landgericht Kleve bereits gestanden, gemeinsam mit Jörg L. dessen Tochter in einem Wellness-Bad in Essen missbraucht zu haben. Jörg L. soll außerdem zwei zehn bis zwölf Jahre alte Mädchen im Internet vor laufender Kamera zu sexuellen Handlungen gebracht und massenhaft kinderpornografische Bilder und Videos besessen, verbreitet und hergestellt haben. Auf seinen Handys und Computern sicherten die Ermittler drei Terabyte Daten. Er soll den Missbrauch seiner Tochter viele Male dokumentiert und seinen Chatpartnern in den pädokriminellen Netzwerken zur Verfügung gestellt haben. Neben Bastian S. soll er einigen weiteren Männern in Aussicht gestellt haben, seine Tochter ebenfalls missbrauchen zu dürfen. Einer der Chats hatte allein 1800 Mitglieder.

Kölns Polizeipräsident Uwe Jacob machte kürzlich deutlich, wie unerträglich die Bilder und Videos sind, die die Ermittler seit dem Herbst sichten und auswerten müssen. Er sprach von Einblicken, „die das Vorstellungsvermögen sprengen“. Mal soll Paula während des Missbrauchs mit einem Schnuller im Mund zu sehen sein, mal trägt sie winzige Kindersocken oder liegt auf einer Babydecke auf dem Wickeltisch. Jörg L. soll dem Mädchen auch regelmäßig Kinderpornos gezeigt haben. All das geschah offenbar, ohne dass seine Frau Verdacht schöpfte. Jörg L. soll sein Kind vor allem früh morgens missbraucht haben, wenn seine Frau das Haus zum Arbeiten verließ. Er selbst arbeitete als Pförtner in Bergisch Gladbach und hatte unterschiedliche Schichten. Er war es aber offenbar fast immer, der Paula um 8.30 Uhr in die Kita brachte. Vorher habe er immer „Zeit zum Kuscheln“, soll er sinngemäß in den Pädophilen-Chats geäußert haben.

Nach Informationen unserer Redaktion geht es auch um weitere Tatorte. So soll Jörg L. seine Tochter auch im Familienurlaub auf Kostenpflichtiger Inhalt Mallorca oder in den Niederlanden missbraucht haben. Im Prozess gegen seinen Chatpartner und Bekannten Bastian S. aus Kamp-Lintfort wurde klar, dass die beiden Männer nicht nur ein sexuelles Verhältnis miteinander hatten, sondern sich auch im Chat über Wochen gegenseitig hochschaukelten in ihren Missbrauchsfantasien. Bei Fantasien blieb es nicht: S. gestand im Prozess, dass er und Jörg L. sich drei Monate nach der Tat im Wellness-Bad in seiner Wohnung in Kamp-Lintfort trafen. Paula und die beiden Kinder von Bastian S. – ein Junge und ein Mädchen – sollten dort missbraucht werden, auf viele Arten. Der Plan scheiterte. Bei einem weiteren Treffen wollten Bastian S. und Jörg L. am ersten November-Wochenende vergangenen Jahres L.s Tochter und S.s kleine Nichte missbrauchen – Sexspielzeug und Reizwäsche in kleinstmöglicher Größe hatten die Männer schon besorgt. Auch dazu sagte S. im Prozess aus. Es kam nicht zu dem Treffen an Halloween, weil die Chats der beiden Männer zu diesem Zeitpunkt schon von der Polizei überwacht wurden und die Ermittler sie elf Tage vorher festnahmen.

Nach Erkenntnissen der Ermittler soll Jörg L. seit mindestens 20 Jahren Kinderpornos konsumieren und tauschen. Er soll schon sexuelles Interesse an Kindern gehabt haben, als er selbst noch sehr jung war. Durch die Auswertung der Chats sollen sich Hinweise ergeben haben, dass er schon als Jugendlicher zwei Kinder missbraucht haben könnte. Mögliche Opfer konnten aber offenbar bislang nicht identifiziert werden. In den Ermittlungsakten sind aber Hinweise darauf enthalten, dass Jörg L. als junger Mann eine Angehörige ab ihrem vierten Lebensjahr jahrelang sexuell missbraucht haben soll. Davon soll er auch vielen Chatpartnern berichtet und den Missbrauch sinngemäß als „Beginn der Kinderliebe“ bezeichnet haben. Der mutmaßliche Missbrauch der Frau ist inzwischen verjährt, sie soll ihn aber bestätigt haben und als Zeugin im Prozess gehört werden.

Ins Visier der Polizei rückte Jörg L. nie. Er hat keine Vorstrafen. Vermutlich hat er sich auch deshalb sicher gefühlt. In den Chats soll er oft seinen richtigen Namen – und auch den seiner Tochter – genannt haben. Seine Mobiltelefone konnten nicht nur die Ermittler ohne großen Aufwand entsperren. Auch Jörg L.s Ehefrau hatte offenbar freien Zugang zu seinen Computern und Telefonen, auf die sie per Fingerabdruck zugreifen konnte. Doch sie scheint ihrem Ehemann blind vertraut zu haben. Jörg L. soll ihr einige harmlose Nachrichten von Bastian S. gezeigt haben, der mit Frau und Kindern auch mal zum Familienbesuch nach Bergisch Gladbach kam. Seinen Chatpartnern sagte Jörg L. sinngemäß: „Die Mutter weiß nichts.“ Andernfalls würde sie ihn wohl umbringen, soll er geschrieben haben.

Jörg L. soll schon vor der Geburt seines Kindes darüber nachgedacht haben, es zu missbrauchen. Die Ermittler gehen davon aus, dass es noch einen weiteren Grund gibt, warum er sich stets sicher gefühlt haben dürfte. Sowohl er als auch Bastian S. redeten sich ein, dass sie nur mit den Kindern machten, was diese auch „wollten“. Der 27-Jährige sagte im Prozess, man habe bei den Taten ein „Nein“ der Kinder immer akzeptiert. Deshalb sei auch das gemeinsame Treffen in seiner Wohnung in Kamp-Lintfort gescheitert. Seine beiden Kinder und Paula hätten aufgedreht herumgetobt und sich nicht zu sexuellen Handlungen bringen lassen. In Chats schreibt Jörg L. über den Missbrauch nach Informationen unserer Redaktion von einem „kindgerechten“ und dem „Alter des Kindes angemessenen“ Umgang. Sein perfider Plan: Er wollte seine Tochter offenbar so „erziehen“, dass sie irgendwann freiwillig mitmacht. Der Missbrauch des Kindes sollte demnach noch lange so weiterlaufen, wie die Ermittler glauben. Für das Treffen an Halloween hatte Jörg L. nach Aussage von Bastian S. vorgeschlagen, die Kinder mit Alkohol zu betäuben. Und es gibt offenbar noch mehr Hinweise darauf, dass L. seine angebliche Leitlinie, nur so weit zu gehen, wie die Kinder es zulassen, ohnehin ignorierte. In Videos soll deutlich zu hören sein, wie seine Tochter „Nein“ oder „Aua“ schreit.

Wie der psychiatrische Gutachter Jack Kreutz im Prozess gegen Bastian S. sagte, komme es äußerst selten vor, dass Pädokriminelle als Kinder keine eigenen Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Bastian S. ist wohl eine Ausnahme, er gab an, nie sexuell missbraucht worden zu sein. Bei Jörg L. gibt es einige Hinweise darauf, dass er selbst Opfer sexueller Gewalt wurde, wie aus der Anklage hervorgeht. Er soll als Grundschüler von einem älteren Nachbarsjungen missbraucht worden sein. Den eigenen Großvater soll er dabei beobachtet haben, wie der zwei Kinder missbraucht haben soll.

Der Verteidiger von Jörg L. wurde für diesen Artikel um Stellungnahme gebeten, diese liegt bislang nicht vor. Jörg L.s Frau wird am Prozess als Nebenklägerin teilnehmen. Ihre Anwältin sagte, noch sei nicht sicher, ob ihre Mandantin den kompletten Prozess verfolge. Sie ist auch als Zeugin geladen.

Jörg L. droht bei einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren. Außerdem steht die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Raum. Wegen der vielen Taten, die ihm vorgeworfen werden, und seines konspirativen Vorgehens wird er vermutlich als Hangtäter eingestuft und würde damit als Gefahr für die Allgemeinheit gelten. Nachdem die Polizei am 21. Oktober vergangenen Jahres das Haus in Bergisch Gladbach erstmals durchsucht hat, soll Jörg L. zu seiner Frau gesagt haben, dass ihm leid tue, was jetzt alles geschehe. Einen Tag später wurde er festgenommen. Das Haus wurde ein zweites Mal durchsucht, auch sein Arbeitsplatz. Und während die Ermittler über die Auswertung der sichergestellten Computer und Mobiltelefone auf das riesige Pädophilen-Netzwerk stießen, soll Jörg L.s Frau noch davon ausgegangen sein, dass sich alles klären dürfte und die Familie in jedem Fall zusammen Weihnachten feiern würde, wie aus den Akten hervorgeht. Das komplette Umfeld von Jörg L. soll ihn als besonders hilfsbereiten Menschen und verantwortungsvollen Vater beschrieben haben. Einer, der immer für die Familie da gewesen sei.

Bastian S. ist am 26. Mai vom Landgericht Kleve zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Er wurde auf unbestimmte Zeit in die Psychiatrie eingewiesen.

Nach Informationen unserer Redaktion soll der Prozess gegen Jörg L. am 6. Juli vor dem Kölner Landgericht eröffnet werden. 60 Zeugen und zwei Sachverständige sind geladen. Jörg L. schweigt bislang, er hat aber bei der Identifizierung einiger Chatpartner geholfen.

Aktualisierung: Wie das Kölner Landgericht am 12. Juni mitteilte, soll die Hauptverhandlung nach der „derzeitigen Planung“ erst am Montag, 10. August 2020, beginnen. Eine Verschiebung ist nach Angaben eines Sprechers aber weiterhin möglich.

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