Soziologe zur Gewalttat in Lünen "Gewalt unter Jugendlichen hat deutlich abgenommen"

Ein 14-Jähriger wird in seiner Schule in Lünen niedergestochen und stirbt. Welche Gründe kann es für eine solche Gewalttat geben? Wir haben mit dem Soziologen Dietrich Oberwittler gesprochen. Er sagt: Gewalt unter Jugendlichen ist eigentlich deutlich ruckläufig.

Bluttat in Lünen: Trauer nach Tod von Schüler
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Schüler in Lünen getötet - Trauer am Tag danach

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Foto: dpa, gki gfh

Herr Oberwittler, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Jugendkriminalität: Ist der Fall aus Lünen, wo am hellichten Tag ein 14-Jähriger in seiner Schule getötet wurde, auch für Sie schwer zu erklären?

Dietrich Oberwittler Es ist ein ganz ungewöhnlicher Fall von schwerer Jugendgewalt. Zum einen eskaliert es auf eine solche Art unter Jugendlichen typischerweise nicht. Der Fall ist aber auch für die gesamte Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland untypisch.

Wie eskaliert es denn typischerweise?

Oberwittler Der größte Teil der Gewalt in dieser Altersgruppe geschieht am Wochenende und oft unter Alkohol-Einfluss. Abends und nachts in den Innenstädten, nach Kneipenbesuchen oder in Clubs. Viele Täter sind 16, 17 Jahre alt. Da gibt es einfach bestimmte Konstellationen, die relativ vorhersehbar in Gewalttaten enden können. Das sind traditionelle Formen von Gewalt, die es auch immer schon gegeben hat. Und nicht, dass ein Jugendlicher aus dem Blauen heraus morgens jemanden in der Schule überfällt — das ist extrem ungewöhnlich.

 Der Soziologe Dietrich Oberwittler.

Der Soziologe Dietrich Oberwittler.

Foto: Universität Freiburg

Die Reaktion in der Bevölkerung auf eine solche Tat ist oft: die Jugend wird immer schlimmer, enthemmter, brutaler. Ist das so?

Oberwittler Nein. Man muss die langfristigen Trends betrachten und die objektiven Daten. Und die zeigen, dass die Gewalt unter Jugendlichen in Deutschland über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ganz deutlich abgenommen hat. Es gibt auch nur noch etwa halb so viele Tötungsdelikte wie vor 20 Jahren. Das ist eine wichtige Botschaft — auch wenn jeder Einzelfall natürlich furchtbare Folgen für die Betroffenen hat.

Worauf führen Sie diesen positiven Trend zurück?

Oberwittler Ein wichtiger Aspekt ist die Verbesserung von elterlichen Erziehungsstilen. Die wirken sich positiv aus. Man weiß schon seit langem, dass erlebte Gewalt ein wichtiger Auslöser dafür ist, dass Jugendliche selbst gewalttätig werden. Je früher ein Kind Gewalt erfährt, desto problematischer wird es später. Eine gewaltfreie Erziehung wirkt sich immer positiv auf die Entwicklung eines Kindes aus. Was sicher auch geholfen hat, ist die Gewaltprävention in den Schulen.

Was ist mutmaßlich noch schief gelaufen, wenn ein 15-Jähriger immer wieder durch Aggressivität auffällt, als Schüler kaum zu bändigen war?

Oberwittler Ohne den Einzelfall im Detail zu kennen und bewerten zu wollen: Es wird deutlich, dass massive Probleme auf der Täterseite vorhanden gewesen sein müssen, um so eine Tat zu begehen. Da können pathologische Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle spielen. Bei gewalttätigen Jugendlichen spielen ganz allgemein oft Anerkennungsdefizite eine Rolle. Sie wollen Probleme mit Gewalt lösen, sind leicht reizbar, oft fehlt es auch an Empathie. Das Verhalten in extremen Einzelfällen ist schwer zu durchschauen — und leider auch schwer zu prognostizieren.

Helfen harte Strafen? Schrecken sie ab?

Oberwittler Die Allgemeinheit wird nicht durch die Härte einer Strafe beeinflusst. Man kann die Strafen hochsetzen, aber das wird nicht dazu führen, dass die Menschen seltener straffällig werden. Die schwierigste Zeit ist das Alter zwischen 16 und 25 Jahren. In seltenen Fällen wird ein Mensch früher gewalttätig — wie in Lünen. Ab Anfang 20 nimmt die Neigung zu Gewalt in der Regel deutlich ab. Das heißt natürlich nicht, dass in Einzelfällen die Gefährlichkeit nicht doch bestehen bleiben kann. Dieses Risiko zu bewerten ist letztlich die schwierige Aufgabe von psychiatrischen Gutachtern.

Der Soziologe Dietrich Oberwittler ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und Professor für Soziologie an der Universität Freiburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Jugendforschung und Kriminalsoziologie.

(hsr)
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