Urteile im Lügde-Fall Lange Haft und Sicherungsverwahrung für die Hauptbeschuldigten

Detmold · Die harten Urteile gegen die Täter im Missbrauchskandal von Lügde werden überwiegend begrüßt. In der nächsten Woche beginnt die politische Aufarbeitung des Falls.

 Rechtsanwalt Jürgen Bogner (l-r), die Angeklagten Mario S. und Andreas V. sowie Rechtsanwalt Johannes Salmen (l-r) im Saal des Landgerichts Detmold.

Rechtsanwalt Jürgen Bogner (l-r), die Angeklagten Mario S. und Andreas V. sowie Rechtsanwalt Johannes Salmen (l-r) im Saal des Landgerichts Detmold.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Führende Politiker reagieren erleichtert auf das Urteil im Fall Lügde. Er sei „sehr froh“ über die verhängten hohen Haftstrafen und die anschließende Sicherungsverwahrung, sagte NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) am Vormittag. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sieht in dem Urteil auch eine „Warnung an alle Täter“. Das helfe dem Kinderschutz. „Das Leiden der Opfer lindert das natürlich nicht“, sagte Reul. NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) dankte den Detmolder Justizbehörden, „die zielgerichtet und zügig ihren Beitrag zur Aufarbeitung dieses schrecklichen Verbrechens geleistet haben“.

Das Landgericht Detmold hatte zuvor die beiden geständigen Hauptangeklagten zu 13 und zwölf Jahren Haft verurteilt. Zum Schutz der Allgemeinheit kommen sie auch danach nicht frei, sondern kommen in eine Sicherungsverwahrung. Laut Gericht haben die Verurteilten mit einem perfiden System jahrelang insgesamt 32 Opfer missbraucht. Unter anderem wurde ihnen der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern in insgesamt rund 250 Fällen auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde zur Last gelegt. Der Fall wurde Ende Januar öffentlich und hatte bundesweit auch deshalb für großes Aufsehen gesorgt, weil es bei den Ermittlungen erhebliche Polizeipannen gab. Auch die Jugendämter stehen in der Kritik. In der kommenden Woche beginnt ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag mit der politischen Aufarbeitung des Falls.

Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda erklärte in der Urteilsbegründung, dass die Gesamtzahl der Opfer wahrscheinlich noch höher liege. Die Angeklagten hätten die Kinder „zu Objekten ihrer sexuellen Begierde degradiert“. Aufrichtige Reue habe das Gericht bei den Tätern trotz der Geständnisse nicht festgestellt. Die beiden hätten offenbar nicht ansatzweise erkannt, „was sie wirklich angerichtet haben“, sagte die Richterin.

Der 56-jährige Ex-Dauercamper Andreas V. wurde vor allem wegen 223-fachen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs zu 13 Jahren Haft verurteilt. Der 34-jährige Mario S. unter anderem wegen 48-fachen schweren Kindesmissbrauchs zu zwölf Jahren. Die Täter filmten ihre Taten zum Teil, so dass das Gericht auch andere Delikte wie die Herstellung kinderpornografischer Schriften und sexuelle Nötigung zu berücksichtigen hatte. Die Anklage hatte 14 Jahre Haft für V. und zwölfeinhalb Jahre für S. sowie ebenfalls für beide die anschließende Sicherungsverwahrung gefordert.

Nach Überzeugung des Gerichts haben sich V. und S. das Vertrauen der Kinder erschlichen, indem sie mit den Opfern Ausflüge unternommen, Lagerfeuer veranstaltet und ihnen Geschenke wie Süßigkeiten oder einen Laptop machten. Dann aber hätten sie „ihr wahres Gesicht“ gezeigt, so die Richterin, und das sei eine „infame und niederträchtige Verhaltensweise“ gewesen.

Trotzdem blieb das Gericht unter der maximal möglichen Höchststrafe von 15 Jahren. Das Gericht hielt den Angeklagten ihre Geständnisse zugute, die den Opfern den Schrecken von detaillierten Aussagen im Zeugenstand ersparte. Zudem waren beide Angeklagten nicht vorbestraft. Viel mehr Entlastendes fand das Gericht allerdings nicht – im Gegenteil. Die Taten seien „durch nichts zu entschuldigen“, sagte die Richterin. Weil auch nach der Haft weitere Straftaten von ihnen ausgehen könnten, sei auch die Sicherungsverwahrung nach der Haft „zwingend erforderlich“.

Zum Schutz der Kinder wurden große Teile der elf Verhandlungstermine unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Das Gericht hatte 16 Opfer und zwölf Angehörige in den Zeugenstand gerufen.

Julia von Weiler, Geschäftsführerin des Anti-Missbrauch-Vereins „Innocence in Danger“ sagte, viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen würden weiterhin unter dem Missbrauch leiden: „Sie fürchten, erkannt zu werden, weil die Täter Bilder und Videos von den Straftaten digital verbreitet haben. Es wird unterschätzt, wie sehr das Internet zum Verbreiten von Missbrauchsfotos und Videos genutzt wird.“

Der Missbrauch bleibe Teil der Lebensgeschichte dieser Kinder. Die angekündigte Sicherungsverwahrung hält sie für angemessen: „Sie haben länger als zehn Jahre Kinder missbraucht. Wer so viele Kinder so strategisch auf so lange Zeit missbraucht, der scheint mir eine Gefahr für Kinder lebenslang zu sein.“

Auch Anke Heldt, Vertreterin der Opferschutzorganisation „Weisser Ring“ begrüßt die Sicherungsverwahrung. Sie berichtet, die Eltern der betroffenen Kinder hätten der Verkündigung des Urteiles ruhig in einem Nebenraum des Gerichtes zugehört. Sie hätten die Entscheidung „gelassen“ hingenommen. Die Sicherungsverwahrung sei „gut begründet“, weil beide Täter ja die Kinder über viele Jahre lang missbraucht haben.“

Biesenbach sagte: „Die Bekämpfung dieser Kriminalität zum Nachteil der Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft ist auch eines der Hauptanliegen meiner Dienstzeit. Daher geht die Justiz ganz neue Wege, um alle Ermittlungsverfahren gründlich und effizient in kürzester Zeit führen zu können.“ Biesenbach lässt derzeit eine neue Technik entwickeln, um sichergestellte Bilddateien effizienter auswerten zu können. „Ich bin sicher, in wenigen Monaten gelingt der Justiz damit ein wichtiger Fortschritt im Kampf gegen Kindesmissbrauch“, so Biesenbach.

Stamp sprach sich erneut für eine Verschärfung des Strafrechts aus. Der Minister betonte, dass Lügde kein Einzelfall sei, sondern sexueller Kindesmissbrauch überall geschehe. Allein in NRW seien 2018 insgesamt 2422 Fälle aktenkundig geworden. „Das Dunkelfeld ist aber noch viel, viel größer“.

Stamp kündigte an, als Konsequenz aus dem Fall Lügde den Kinderschutz im Land zu verbessern. In einem ersten Schritt soll eine Landesfachstelle eingerichtet werden, die unter anderem die Einrichtungen vor Ort unterstützen, einen Experten-Pool aufbauen und die Maßnahmen koordinieren soll. Zudem soll sich eine interministerielle Arbeitsgruppe dem Thema Prävention widmen. Dabei werde es auch um die Frage gehen, welches Ministerium gegebenenfalls die Zuständigkeit für die Jugendämter übernehme. Für den Kinderschutz stehen Stamp zufolge im Haushalt 2020 zusätzlich 4,8 Millionen Euro zur Verfügung.

SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty kritisierte die angekündigten Maßnahmen als unzureichend: „Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe ist zu wenig“, sagte der Oppositionsführer unserer Redaktion und bekräftigte seine Forderung nach einer Kinderschutzkommission. Die hohen Haftstrafen machten überdies deutlich, welch große Gefahr von den Tätern ausgehe. Die Grünen-Abgeordnete Josefine Paul mahnte, die geplanten Kinderschutzkonzepte möglichst schnell mit Leben zu füllen. „Das müssen professionelle Strukturen sein, das wird viel Geld kosten“, so Paul.

Im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte, die der Fall Lügde ausgelöst hat, wurden etliche Defizite bei den Behörden deutlich. Unter anderem können einschlägige Bilddateien bei Verdächtigen auch in anderen Fällen mangels ausreichenden Personals nur sehr zeitverzögert ausgewertet werden.

Der Fall Lügde hat auch eine neue Kostenpflichtiger Inhalt Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ausgelöst, die derzeit in Deutschland aufgrund von Rechtsunsicherheiten nicht angewendet wird. Sie gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, an Täter heranzukommen, die kinderpornografisches Material im Internet hochladen. (Mit Material der AFP)

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