"Schlimme Taten an unzähligen Kinderseelen" Nach Missbrauch von Lügde sollen Gesetze verschärft werden

Lüdge · Kindesmissbrauch stuft das Strafgesetzbuch als Vergehen mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe ein. Nach dem Fall Lügde drängt die NRW-Landesregierung auf ein höheres Strafmaß.

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Campingplatz in Lügde Tatort in Fällen von Kindesmissbrauch

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Foto: dpa/Guido Kirchner

Nach dem jahrelangen Kindesmissbrauch auf dem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde mit über 1.000 Einzelfällen scheint die nordrhein-westfälische Landesregierung alarmiert. "Wir müssen uns da richtig was einfallen lassen", sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Er sei "fassungslos angesichts solch schlimmer Taten an diesen unzähligen Kinderseelen", bekennt der CDU-Politiker mit brüchiger Stimme. Es handele sich hier um einen "unvorstellbar furchtbaren Sachverhalt".

Längst ruft Landesfamilienminister Joachim Stamp (FDP) nach Strafverschärfungen bei Kindesmissbrauch und Kinderpornografie. "Wir brauchen ein gesellschaftliches Zeichen", sagt er. Bisher sei Kindesmissbrauch im Strafgesetzbuch lediglich als Vergehen mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe eingestuft. Dieses Delikt müsse endlich als Verbrechen mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr geahndet werden. Im Landtag haben CDU und FDP diese Woche den Kampf gegen Kindesmissbrauch auf die Tagesordnung gesetzt. Zugleich appellieren die beiden Regierungsfraktionen an die Zivilgesellschaft, endlich "die unselige Kultur des Schweigens und Wegguckens zu durchbrechen".

Zwischen 2008 und 2018 sollen auf dem Campingplatz in Lügde drei Männer mindestens 31 minderjährige Opfer missbraucht haben. Über 1.000 Einzelstraftaten werden ihnen zur Last gelegt. Bei den bisher polizeilich identifizierten Opfern handelt es sich um 27 Mädchen und vier Jungen im Alter zwischen 4 und 13 Jahren. Eines der Missbrauchsopfer soll ein Pflegekind sein, dessen Sorgerecht das örtliche Jugendamt einem der Hauptbeschuldigten übertragen hatte.

Im Landeskabinett herrscht blankes Entsetzen. Es habe "Behördenversagen an allen Ecken und Kanten gegeben", urteilt Reul. Neben dem Jugendamt ist offenbar auch die Polizei involviert. Der Innenminister hat gegen zwei Beamte ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Sie sollen frühzeitig über den Kindesmissbrauch alarmiert worden sein. Familienminister Stamp drängt darauf, eine mögliche personelle Überlastung der Jugendämter landesweit zu überprüfen. Beim Erkennen und im Umgang mit Kindesmissbrauch seien Ämter und Behörden längst nicht so weit, wie es sein müsste.

Trotz eines spürbaren Rückgangs bei der allgemeinen Kriminalität haben Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in NRW im vergangenen Jahr um 9,2 Prozent zugenommen. Die Polizei ermittelte landesweit in 2.422 Fällen von Kindesmissbrauch und bei 1.412 kinderpornografischen Delikten. Bei 424 missbrauchten Kindern war ein Familienangehöriger der Tatverdächtige. In 401 Fällen lebte der Täter im gemeinsamen Haushalt. Der Innenminister befürchtet, dass die Dunkelziffer "um ein Vielfaches" höher sei. Deshalb hat die Landesregierung eine "Dunkelfeldstudie" zur Aufhellung von häuslicher und familiärer Gewalt in Auftrag gegeben.

Auf den üblichen politischen Schlagabtausch haben Regierung und Opposition bisher verzichtet. Über den langen Zeitraum des Missbrauchs im Fall Lügde waren CDU, FDP, SPD und Grüne in NRW schließlich wechselseitig an der Regierung. Ausdrücklich zollten die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen dem CDU-Innenminister bei der jüngsten Innenausschusssitzung Dank und Respekt für seine "konsequente Haltung" bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch. Zuvor hatte Reul eine schärfere Gangart der Polizei bei den Delikten angekündigt. Kurzfristig wies er dem Landeskriminalamt (LKA) 20 Stellen zur Auswertung von kinderpornografischem Material zu.

Um zunehmendem Kindesmissbrauch wirkungsvoll zu begegnen, treten CDU und FDP im Düsseldorfer Landtag für eine aktive Zusammenarbeit aller zivilen und staatlichen Stellen ein. Hier müssten Kinder- und Jugendhilfe, Ärzte, Kirchen, Schulen, Sportvereine, Polizei und Staatsanwaltschaft künftig enger kooperieren. Jeder der konkrete Hinweise auf Missbrauchsgefährdung habe, solle dies unverzüglich melden können. Als der NRW-Innenminister die vertraulichen Ermittlungsakten über den jahrelangen Kindesmissbrauch auf dem Campingplatz in Lügde gelesen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. "Das hätte meine Oma gemerkt", sagt Reul, "dass da was nicht stimmt."

(skr/kna)
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