NRW Lehrpläne überfordern viele Gymnasien

Viersen · NRW streitet über das "Turbo-Abi", und auch die Lehrpläne am Gymnasium stehen in der Kritik: zu viel Stoff, manches unnütz, heißt es oft. Was genau wann wie gelehrt wird, legen die Schulen fest. Nicht alle kommen damit zurecht.

Weniger Freizeit durch G8
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Zum Beispiel Mathe. Zum Beispiel die erste binomische Formel, (a+b)² = a² + 2ab + b². Millionen ist sie aus der Schule noch dunkel ein Begriff. Wer verstehen will, wie in NRW in Zeiten des "Turbo-Abiturs" am Gymnasium unterrichtet wird, dem mag die erste binomische Formel als Beispiel dienen. Natürlich könne man sie einfach auswendig lernen, sagt Gunter Fischer, Schulleiter am Clara-Schumann-Gymnasium in Viersen-Dülken. Man kann sie aber auch als Summe sich ergänzender Rechtecke verstehen. Oder sie sich mit Multiplikationstabellen vor Augen führen.

Am achtjährigen Gymnasium (G 8) funktioniert Unterricht anders als früher am neunjährigen. Nicht überall funktioniert er ordentlich; vor allem Eltern klagen, ihre Kinder ächzten unter der Stofffülle des G 8-Systems. Immer wieder wird darum die Forderung nach einer Überarbeitung der Lehrpläne laut. Auch für die Arbeitsgruppen, die Vorschläge zur Reform des "Turbo-Abiturs" in NRW vorlegen sollen, steht das Thema auf der Tagesordnung.

Lehrpläne und Lernwege wie bei den binomischen Formeln hängen eng zusammen. "Mehrkanalig arbeiten" nennt Fischer das: "Es gibt nicht nur einen Lösungsweg. Es geht nicht wie früher einfach um das Anwenden von Strategien, sondern darum, welche Strategien zum Ziel führen und wie ich Verknüpfungen mit anderen Feldern aufzeigen kann." Wichtig ist, was der Schüler am Ende kann: die Kompetenz.

"Kompetenz" ist daher das Leitwort der Lehrpläne, die die Erwartungen an die G 8-Schüler beschreiben. Heute sind alle Fächer mit solchen Plänen versorgt - teils jedoch erst nach Jahren des Übergangs, in denen die Schulen in Eigenregie Stoff aus neun in acht Jahre pressen mussten. Wenig dürfte der Akzeptanz des "Turbo-Abiturs" in NRW so geschadet haben wie diese Lücke.

Zurück zur Mathematik. "Kernlehrplan" steht über dem 39-Seiten-Papier für die Sekundarstufe I am G 8-Gymnasium in NRW. Er formuliert, was Schüler nach Klasse sechs, acht und neun beherrschen müssen. Diese Erwartungen fußen wiederum auf den gemeinsamen Bildungsstandards aller Bundesländer - eine Folge des "Pisa-Schocks", der die Defizite deutscher Schüler offenlegte. Im NRW-Lehrplan kommen die binomischen Formeln nur einmal vor: "Schüler nutzen binomische Formeln als Rechenstrategie", heißt es bei den Achtklässlern - neben Wurzelziehen und linearen Gleichungssystemen, aber auch eher banalen Dingen wie der Benutzung eines Taschenrechners.

Wie wird daraus ein Unterrichtsplan? Durch die Mathe-Lehrer, sagt Dominik Douteil, Lehrer am Clara-Schumann-Gymnasium. Aus den 39 Seiten Kernlehrplan destillierten die 13 Kollegen 22 Seiten, die detailliert beschreiben, welche Lektionen des Mathe-Buchs obligatorisch und welche frei wählbar sind. Dieser Schul-Lehrplan muss nicht eigens genehmigt werden, kommt aber bei den Besuchen der Schulaufsicht auf den Prüfstand. "Der Schul-Lehrplan wird fortlaufend überarbeitet", sagt Douteil, und er wird ergänzt - etwa um die Frage, wie sich Kugeln auf dem Billardtisch verhalten. Das passt, denn in Viersen findet regelmäßig die Dreiband-WM der Nationalmannschaften statt.

Die Lehrer entscheiden selbst, wie sie ihren Schülern genau Mathe beibringen - das ist das Konzept des Kernlehrplans. "Je mehr Freiraum, desto besser kann sich jeder einbringen", sagt Douteil. Freilich ist das eine zweischneidige Selbstständigkeit: Mehr Möglichkeiten heißt mehr Verantwortung jeder Schule - nur vernünftig austarierte Lehrpläne halten die Balance zwischen Herausforderung und Überforderung, und im G 8 ist der Grat besonders schmal. Schulleiter Fischer sagt es so: "Ich muss darauf achten, den Unterricht effektiv zu gestalten." Wer die Vorgaben richtig umsetze, steigere sogar die Effizienz, weil er auf die immer unterschiedlichere Schülerschaft besser eingehe.

Wer es nicht tut, vermehrt den großen G 8-Frust. "Ich kann mit Kernlehrplänen natürlich unterrichten wie vor 15 Jahren", sagt Fischer: "Aber dann kriege ich ein Problem." Genau das ist die Fußangel. "Wir sehen inzwischen die Kernlehrpläne als Überforderung der Schulen", sagt der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller: "Gute Schulen können damit umgehen, schwache nicht."

Das alles zeigt: Am Ende dürfte die Frage nach weiterer Kürzung der Lehrpläne nicht unbedingt entscheidend sein - die große Entrümpelung hat mit der Einführung der vergleichsweise schlanken Kernlehrpläne schon stattgefunden. Es dürfte eher darum gehen, ob die G 8-Reform in NRW in Sachen Lehrpläne konkrete und verbindliche Änderungen bringt. Etwa striktere Vorgaben für alle bei der Umsetzung der Kernlehrpläne - oder, schlägt Köller vor, konsequentere Unterstützungsangebote: "Wer Schulen in die Selbstständigkeit entlässt, braucht dafür eine Strategie. Wenn man die Schulen einfach machen lässt, wird das schiefgehen."

(RP)
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