Flutopfer ziehen ins rheinische Braunkohlerevier Neues Zuhause im Geisterdorf

Erkelenz · Flutopfer aus Blessem und Stolberg sind vorübergehend nach Kuckum gezogen. Dort stehen viele Häuser leer, weil das Dorf dem Tagebau weichen soll. Gerade mal 192 Menschen leben noch dort. Aber die Hilfsbereitschaft im Ort ist groß.

 In dieser Nebenstraße in Kuckum haben Flutgeschädigte vorübergehend ein neues Zuhause gefunden.

In dieser Nebenstraße in Kuckum haben Flutgeschädigte vorübergehend ein neues Zuhause gefunden.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

Anna genießt die neue Ruhe, die sie in Kuckum umgibt, wenn sie mit ihrem Hund Carlos spazieren geht. „Hier ist es so still. Man trifft kaum jemanden auf der Straße“, sagt sie. „Das ist richtig erholsam. Gerade der Blick über die Felder ist wunderschön“, sagt sie. Seit einer Woche wohnt sie mit ihrem Lebensgefährten, ihrem Sohn und Rüde Carlos in dem kleinen Braunkohle-Dorf, einem Erkelenzer Ortsteil, der dem Tagebau Garzweiler II weichen soll.

Hierhin gezogen ist Anna mit ihrer Familie aus Blessem, dem Stadtteil Erftstadts, den die Flutkata­strophe vor einem Monat so schwer getroffen hat. „Unser Haus steht zwar noch. Es ist aber unbewohnbar, mindestens ein halbes Jahr können wir da nicht mehr leben“, sagt Anna. Deshalb sind sie nun in Kuckum; dort gibt es viel leerstehenden Wohnraum, weil viele den Ortsteil wegen der herannahenden Tagebau-Bagger bereits verlassen haben. Am Ortsrand haben Anna und ihre Familie ein freistehendes Einfamilienhaus bezogen, das schon seit Jahren leer gestanden hat. „Ich kann hier neue Kraft tanken“, sagt Anna.

 Anna geht in Kuckum mit ihrem Hund Carlos spazieren und genießt die Ruhe in dem verlassenen Ort.

Anna geht in Kuckum mit ihrem Hund Carlos spazieren und genießt die Ruhe in dem verlassenen Ort.

Foto: Schwerdtfeger, Christian

Hunderte Menschen stehen nach der Flutkatastrophe ohne Dach über dem Kopf da; die Wassermassen haben ihre Wohnungen und Häuser zerstört oder für einen langen Zeitraum unbewohnbar gemacht. Ein kleiner Teil der Betroffenen kommt vorübergehend in Dörfern im rheinischen Braunkohlervier unter, die umgesiedelt werden sollen: etwa in Kuckum und in Morschenich, das am Tagebau Hambach liegt. Der Energiekonzern RWE hilft dabei, die Menschen dort unterzubringen. In Kuckum sollen bereits fünf Familien aus Flutgebieten wohnen.

Johnny Winkler und Clarissa Konsdorf kommen eigentlich aus Stolberg, das ebenfalls von der Jahrhundertflut heimgesucht worden ist. Seit einigen Tagen wohnen sie in dem kleinen Erkenlenzer Ortsteil. In ihre alte Wohnung, in der das junge Paar zur Miete gewohnt hat, können sie nicht mehr zurück. Die Flut hat dem Gebäude schwer zugesetzt, ihr Vermieter hat es deswegen verkauft. Stattdessen wohnen sie jetzt in einem geräumigen freistehenden Einfamilienhaus mit Garten, das schräg gegenüber dem Haus liegt, das Anna und ihre Familie jetzt nutzen.

 Clarissa Konsdorf und Johnny Winkler aus Stolberg sind in ein Haus in Kuckum gezogen. Sie konnte ein Fotoalbum vor der Flut retten, er seine alte Schultüte.

Clarissa Konsdorf und Johnny Winkler aus Stolberg sind in ein Haus in Kuckum gezogen. Sie konnte ein Fotoalbum vor der Flut retten, er seine alte Schultüte.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

„Wir fühlen uns hier richtig wohl“, sagt der 26-jährige Johnny Winkler. Sie hätten alles, was sie zum Leben brauchen: Strom, fließendes Wasser und Internet. Und darüber hinaus: jede Menge Platz. „RWE kümmert sich um alles. Sie haben uns auch eine neue Waschmaschine gebracht“, sagt die 24-jährige Clarissa Konsdorf. Die ersten drei Monate dürfen sie komplett kostenlos in dem Haus wohnen; danach fallen nur die Nebenkosten an. Miete müssen sie nicht bezahlen. „Wir können uns wirklich nicht beschweren“, sagt Winkler. Und wie es danach weitergehe, müsse man eben sehen. Er persönlich wünscht sich, länger bleiben zu können und hofft daher, dass der Ort nicht abgerissen werden muss. „Ich finde es sehr schön hier, auch wenn es hier sehr ruhig ist. Damit kann ich gut leben.“

Die beiden hatten in den sozialen Netzwerken nach der Flutkatastrophe gelesen, dass Betroffene in die „Geisterdörfer“ im Braunkohlerevier ziehen können. „Ich habe mich dann bei RWE gemeldet. Und dann ging alles sehr schnell und unkompliziert“, sagt Winkler. Sie hätten sich sogar das Haus aussuchen können, in das sie ziehen möchten. „Uns wurden mehrere Gebäude gezeigt; darunter sogar ein wirklich riesiges Anwesen, ein Hof mit mehr als 1000 Quadratmetern. Das war uns aber zu groß“, sagt er.

In Kuckum leben noch 192 Menschen; die meisten von ihnen wollen bleiben, während andere aus dem Dorf eine neue Heimat in Neu-Kuckum gefunden haben. Die meisten, die geblieben sind, helfen den Neuankömmlingen aus den Flutgebieten bei der Eingewöhnung. „Zu uns sind direkt am Tag des Einzugs neun Frauen gekommen, die mitgeholfen haben, das Haus wieder wohnlich zu machen“, sagt Anna. „Sie haben aufgeräumt, geputzt, geschrubbt, Essen gebracht“, berichtet sie weiter. Denn auch wenn die Häuser zum Teil sehr gut erhalten sind, merkt man ihnen an, wenn dort jahrelang niemand mehr gewohnt hat. „Wir sind wahnsinnig dankbar für die Hilfe und die Freundlichkeit, die uns hier entgegengebracht wird, das habe ich noch nie erlebt“, sagt Anna dankbar.

Dass Anna überhaupt mit ihrem Carlos durch Kuckum spazieren gehen kann, ist dem mutigen Einsatz ihres Sohnes zu verdanken. Der Rüde drohte, in den Fluten zu ertrinken. „Er war allein zu Hause, als das Wasser kam. Und wir durften eigentlich nicht mehr zurück, um ihn zu holen“, sagt sie. Man habe ihr gesagt, Menschenleben gehe vor Hundenleben; es sei zu gefährlich, Carlos zu holen. „Aber sagen Sie mal einem Hundebesitzer, dass sein Hund ertrinken soll. Das nimmt man nicht so einfach hin“, sagt Anna. Ihr Sohn schaffte es, die Absperrungen zu umgehen und Carlos zu retten. „Das Wasser stand da schon bis zu den Knien.“ Und nun erkundet Carlos seine neue Umgebung in Kuckum.

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